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Archiv für den Monat August 2013

August Bungert: Einführung zu „Hutten und Sickingen“ (1888)

August Bungert (1845–1915), der in den 1890er Jahren mit seiner Tetralogie „Homerische Welt“ auf den Opernbühnen Furore machte, schrieb und komponierte in den 1880er Jahren ein Festspiel „Hutten und Sickingen“ zur Aufführung in Bad Kreuznach. Er stellte ihm eine umfangreiche Einführung voran, die seinen Umgang mit dem Stoff rechtfertigte. Bungert griff dabei einerseits unverkennbar auf Wagners Theorie des Gesamtkunstwerks und seiner transformativen Kraft zurück, andererseits aber auch auf Hans Herrigs (ihrerseits teils auf Wagner, teils auf Schopenhauer fußenden) Theorien zum „Volkstheater“ als dem Gegenbild des „Luxustheaters“. Der resultierende Text ist bezeichnend für den kulturkonservativen Diskurs diese Jahre – im Anknüpfen an Wagner, in der Suche nach neuen Wegen (die Bungert, ähnlich wie Engelbert Humperdinck, zur Rehabilitierung des Bühnenmelodrams führte) und in seinem aus heutiger Sicht sehr irritierenden nationalen Pathos.

Hutten und Sickingen

Ein dramatisches Festspiel für das deutsche Volk

von August Bungert. Opus 40.

Berlin: Luckhardt 1888.

Zur Einführung.

Wer eine Geschichte Hutten’s schreibt, muß auch die von Sickingen schreiben; und wer den Sickingen auf die Bühne bringt, wird ihn mit Hutten erscheinen lassen. – Die Gestalten lassen sich nicht trennen. – Die Schicksale der einen oder anderen dieser beiden Gestalten beginnen da bedeutungsvoll, wahrhaft historisch im großen Sinne zu werden, wo die beiden Männer, ein jeder ausgereift in seiner Entwickelung, einander persönlich sich nähern. – Groß und tragisch wird die Laufbahn beider von diesem Augenblick an. – Es sind drei Jahre etwa, daß sie beide, ideale Ziele im Auge, – zusammengehen, streiten, kämpfen, – fallen. Im Hintergrunde steht die Gestalt Luthers. – Sein Leben, sein Werk ein großes Weltereigniß. – Hutten und Sickingen waren Mitkämpfer für den Gedanken! Wenn Luther’s Werk, man verzeihe den Vergleich, die elektrische Batterie ist, so ist Hutten der elektrische Funke, der in Sickingen einschlägt. –

Dem heutigen Dramatiker, den Plan zur Tragödie entwerfend, wird im vorliegenden Stoff vor allem das Weib fehlen. Wir haben keine überlieferte, sogenannte Liebesgeschichte, keine Episode derart, die brauchbar und zu verwerthen wäre. – Schiller hat im „Wallenstein“ seinem Helden Piccolomini einen Sohn gegeben. Hand auf’s Herz! Könnten wir wagen in das Wirken unserer Helden [II] eine Liebesgeschichte, als mittreibende Macht, hinein zu schieben? Nein und aber nein! Die grade offene Größe der Gestalten erträgt es auch kaum, und brächte man eine solche Episode hinzu, z. B. etwa eine Liebesgeschichte Schweickardt’s mit einer Trierer Bürgerstochter oder dgl., die den Konflikt noch verstärken könnte zwischen den beiden Parteien, so dürfte dieselbe doch nimmermehr auf die psychologische Entwicklung unserer beiden Helden Einfluß üben; sie dürfte nur nebenher gehen! Es handelt sich im jetzigen Zeitpunkt besonders darum, die Helden möglichst geschichtlich wahr darzustellen und keine Veranlassung zu Deutungen zu geben, als wären hier zu Gunsten politischer Motive die Helden anders vorgeführt, als sie wirklich waren!

So stehen wir also einmal wieder auf dem Standpunkte der Alten! Wir haben zwei Helden, deren Schicksal tragisch ist, ohne daß eine Liebesgeschichte, ohne daß ein Weib, daß die sinnliche Liebe in der Entwicklung der Tragödie eine Rolle spielte.

Großartig beide von Natur angelegt, spiegeln sie in ihren Worten und Thaten ein echtes Bild der Zeit. – Sie greifen mit in die Räder der Zeit und bringen sie vorwärts – indem sie fallen. – In ihrem Leben ist die Zeit gewissermaßen verkörpert, in ihrem Thun der Volks- und Zeitgedanke dargestellt. – Gedanken giebt’s, die Menschen werden! –

Ich bin im Drama streng der Geschichte gefolgt; die überhaupt vorhandenen Werke und Quellen weichen nur unwesentlich von einander ab. [Anm.: Daß Hutten vor Trier im Lager erscheint, ist historisch fraglich; d. h. man weiß es bis jetzt nicht, wo er zu jener Zeit sich aufhielt, möglich, daß spätere Forschungen uns noch darüber belehren werden.] – Wir haben also ein treues geschichtliches Bild der Helden und Zeit in Bezug auf ihre Thaten, ihren Handlungen, vor uns. – [III] Dem Dichter kommt es zu, tief in das Innere der Helden zu sehen und die geheimen Fäden klar zu legen, in denen die Keime ihrer Handlungen liegen.

Die Gestalt des landfahrenden, abenteuerlichen Doktor Faust, der in der Gier nach Wissen seine Seele dem Teufel Mephistophilis verschrieben, durfte sich der Dichter nicht entgehen lassen. Daß ein Doktor Faust auf den Schlössern des Vaters, Schweickardt von Sickingen, lebte, ist kaum zu bestreiten. – Fr. v. Schlegel sagt, daß ihn dieser wegen unsittlicher Handlungen entlassen habe. – Er soll um das Jahr 1480 in Knittlingen in Württemberg, dem Geburtsort Melanchthons, geboren und zu Staufen im Breisgau um 1540 gestorben sein. – Das Volksbuch „Faust“ erschien 1586. – Er ist in unserer Tragödie die Verkörperung des menschlichen Hanges, das Räthsel des Lebens und der Welt durch Forschungen in den Wissenschaften zu enthüllen – während in der Gestalt Luther’s der Vertreter des echten, christlichen Glaubens sich darstellt. So sind also diese beiden Gestalten gewissermaßen die am weitesten aus einander gehenden, sich gegenüberstehenden Träger von Ideen im Drama. –

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Das Festspiel, obwol auf jeder heutigen Bühne mit dekorativer Zuthat ausführbar, ist zunächst für die denkbar einfachste Bühne, der altenglischen Shakespeare’schen Bühne sich nähernd, gedacht. [Anm.: Siehe z. B. Rudolf Genée über dieselbe.] – Aus dem Zuschauerraum führen etwa sieben Stufen zu dieser hinauf. – Die Bühne ist in drei Theile, eine Vorder-, Mittel- und Hinterbühne getheilt. Nur die beiden hinteren Bühnen erhalten Abschlüsse durch Vorhänge; die Vorderbühne bleibt frei. Die Hinterbühne hat nach der Mitte hin [IV] im Hintergrunde einen Balkon. Jeder Bühnentheil hat rechts und links Seiten-Ausgänge. –

Durch diese Einrichtung entgehen wir, neben anderen in die Augen springenden Vorzügen, bei häufigem Szenenwechsel, dem unaufhörlichen, die Illusion störenden Auf- und Niedergehen des einen Haupt-Vorhanges, wie wir es z. B. bei einer Aufführung eines Götz von Berlichingen oder mancher Stücke von Shakespeare ertragen müssen.

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Bezüglich der Form des vorliegenden Werkes noch dieses: Gelingt es dem Dichter von Anfang an das Publikum, sagen wir das Volk zu fesseln, zu stimmen, hinzureißen, so wird es gerne im Verlauf der Handlung, ein Wort, wenn auch nicht mit drein reden, so doch mit drein singen, und so hätten wir in gewissem Sinn gleichsam den Anklang des antiken Chores im Volk selbst. – Das Gesangliche muß natürlich einstweilen auf einfache, womöglich im Volk schon bekannte Lieder beschränkt werden. Das Festspiel wäre vollkommen, wenn das Volk, theilnehmend am Geschick des Helden, gewissermaßen die Handlung des Drama’s mit erlebte, mit dem Helden sich freuend, mit ihm leidend; durch die Dichtung endlich sich erhebend, zu betrachtendem und handelndem Chor würde. –

Wir müssen also suchen, diese oben gezeichnete ideale Theilnahme des Publikums, des Volkes, zunächst durch einen vaterländischen Stoff, dann sowol durch den Aufbau des Stückes, durch die Erfindung der Szenen, wie die Durchführung derselben, zu erregen und festzuhalten, um ihm singend auch das Wort geben zu können.

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Die höchste Steigerung des Mitempfindens ist in diesem Falle also: Mitsingen, Mithandeln. Der sprichwörtlich gewordene Ausdruck: „Das Volk spielte mit!“ ist bedeutungsvoll genug für jene Behauptung. Diese mitsingende Betheiligung des Volkes an dem Vorgang auf der Bühne wird nun in sehr verschiedener Art erreicht werden können. – Vielleicht zunächst durch Steigerung einer bejahenden Stimmung zu der Handlung auf der Bühne; sagen wir kurzweg durch die im Volk hervorgerufene Begeisterung. Hier werden grade nationale, patriotische Situationen, oder auch religiöse Auftritte, genug, solche Vorgänge, die das Volk als Volk, als gemeinsam sich empfindendes Ganze ergreifen, die ausgiebigsten sein. Den Versuch, beide Faktoren zusammen wirken zu lassen, bietet z. B. der erste Akt des vorliegenden Werkes und zwar sowol bei der Weihnachtsfeier, wie auch am Schluß, wo die nationale und religiöse Empfindung zugleich gesteigert werden, so daß das Volk schließlich mit den Helden auf der Bühne seinem Herzen Luft macht in dem Schlußliede.

Eine andere Art, die Mitbetheiligung im Gesang hervorzurufen, kann ferner die Furcht und das Mitleid bei einem Vorgange auf der Bühne erregen. Der Reflex des Geschauten, die unbewußte Betrachtung des eigenen Schicksals dem Geschehenden gegenüber kann zu betrachtendem Singen werden. Ein Beispiel ist bei uns der Liedeinsatz „Wer weiß, wie nahe mir mein Ende!“ nach der Fieberszene Hutten’s. [Anm.: In einem demnächst erscheinenden Werke rufen Entrüstung und Schrecken, Entsetzen bei einem Vorgange auf der Bühne die Gesangschöre im Volke hervor.]

Natürlich wird nicht in allen Fällen das Volk, das Publikum, diese Rolle übernehmen, sondern es kann [VI] ein Chor sein, der auf der Bühne, hinter der Bühne oder sonst wo im Saale aufgestellt ist. [Anm.: In Worms hat man eine Sängerbühne gegenüber der Bühne, also im Rücken des Publikums. Man lese die höchst interessanten Schriften meines Freundes Hans Herrig, wie die des tapfern Freundes deutscher Kunst Herrn Fried. Schön. Die Festspiele in Oberammergau, Rothenburg, wie das Herrig’sche Lutherfestspiel habe ich leider nicht gesehen.]

Im Nachspiele des vorliegenden Werkes tritt nun dieser Chor des Volkes, also das Volk selbst, gewissermaßen singend und handelnd auf. Die Worte Luther’s und Melancht[h]on’s führen die Größe der beiden Helden, ohne ihre Schwächen unberührt zu lassen, dem Volke noch einmal vor. Die Lehre, die wir schöpfen, ist die: Hand in Hand in Frieden zusammen zu gehen; und als Luther die Worte ausspricht: „Wir glauben all an einen Gott„, schreitet der Volkschor, das Lied singend, die Stufen der Bühne hinauf und bestätigt, sich neben Luther aufstellend, jene gesungenen Worte durch diese Handlung. [Anm.: Hier haben wir eine annähernde Aehnlichkeit mit dem Schreiten des griechischen Chors um den Altar.]

Und so wäre das fernere Hinaufschreiten des zweiten Chores und der Schlußgesang: „O heil’ger Geist kehr bei uns ein„, der noch durch die „bei Pfingstglockenklang“ aufziehenden Chöre der Palmen schwenkenden Kinder, gleichsam als Boten, die den Frieden verkündigen, verstärkt wird, ein in Handlung übersetztes, im Gegensatz zu Schwertesgewalt, gemeinsam gesungenes Bekenntniß zu dem allein wirkenden Worte, welches die That ist!

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Daß die Griechen außer dem Tanzreigen und der instrumentalen Begleitung des Chores oder Chorreigen noch öfter instrumentaler Fragmente in ihrer Tragödie hatten, ist wol zweifellos. Ja, wer weiß, wenn auch der instrumentale Körper nach unseren heutigen Begriffen ein noch so kärglicher und unbedeutender war, ob nicht die Melodie eines früher gesungenen Chores – der doch gewissermaßen als das verkörperte ethische Prinzip auftrat – in bedeutungsvollen Momenten, da wo die Schuld des Helden an diesem selbst sich rächte, – leise im Orchester gespielt wurde. Und so hätten wir das Leitmotiv im Chor, [Anm.: Daß die Dichtung der Chöre bei den Alten oft bekannten Melodieen untergelegt worden sind, ist kaum zweifelhaft. Vielleicht rühren manche dunkle Wendungen in den Chören des Aeschylos daher und die dunkle Sprache wäre an solchen Stellen nicht blos „sein Stil“.] eine künstlerische Handhabe, die ich indeß auch außer in meinem Musiklustspiel „Liebe Siegerin“ besonders in meiner Musiktragödie Nausikaa„, so wie in „Odysseus Heimkehr“ mehrfach angewandt habe. [Anm.: „Ihr Götter gebet uns die Kraft / Das rechte Maß in Lust und Leidenschaft“ / und / „Frauenleben ist hienieden / Nur ein Kränzewinden.“ / siehe: dritter Abend m. Tetralogie „Homerische Welt“.] –

Es liegt auf der Hand, daß wir durch die Hinzuziehung der Musik im Drama (sagen wir im Melodrama) eine große Anzahl Stoffe, die als Wortdramen behandelt, nicht zu vollkommenen Kunstwerken sich entwickeln konnten, für die Bühne gewinnen. Eine Menge vorhandener Dramen, deren Existenz die Kritik als „opernhaft“ abthut, würden, von vornherein mit Musik organisch verbunden und aufgebaut, dauernde Kunstwerke geworden sein. Andere dramatische Werke, wie z. B. Faust, Calderon’s Leben ein Traum, Ueber allen Zauber Liebe, viele geistliche Schauspiele des Dichters, Kleist’s Kätchen, Die Jungfrau von [VIII] Orleans Schiller’s, Wilhelm Tell Schluß des IV. Aktes und V. Aktes, Shakespeare’s Sturm u. s. w. sind absolut mit Musik gedacht, die Werke sehnen sich nach Musik in vielen Situationen, ja fordern sie heraus und oft sind blos einige Akkorde im Orchester oder hinter der Szene gradezu von befreiender Wirkung auf den Zuschauer; jedenfalls heben sie die Situation ungemein oder auch können sie im andern Falle Gräßliches mildern. In der That haben Komponisten, beispielsweise: Mendelssohn im „Sommernachtstraum“ und Schumann im „Manfred“ durch Hinzuthun von Musik nahezu das Ideal erreicht, was wol dem Dichter vorschwebte. Hier erscheint die Zuthat in den meisten Fällen fast organisch mit dem Werk verwachsen; daß aber durch Hinzutreten des Chores in jener oben angegebenen Weise oder durch Mitwirkung geringer instrumentaler Mittel, wenn sie vom Autor des Werkes, das Werk schaffend, erfunden sind und organisch mit diesem verbunden auftreten, noch eine große Anzahl neuer Wirkungen erzielt werden können, unterliegt keinem Zweifel.

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Wir hätten somit gewissermaßen auf der einen Seite neben dem Wortdrama im Volksdrama mit Chor, das Melodrama mit Instrumentalmusik, letztere nicht blos als Zuthat betone ich nochmals, sondern als bedeutungsvoll mitredendes Organ. Dieses Melodrama wäre fähig, alle Stoffe zu behandeln. Es stünde als aus dem Volke hervorgegangen, in Berührung mit dem Volke geblieben durch dessen ideale Mitbetheiligung als Chor und könnte sehr wol der übertriebenen Kulissenzuthat entbehren, – ohne indeß dieselbe besonders in der Tiefe der Bühne bei geeigneter Szene ganz zu beseitigen.

[IX] Auf der anderen Seite steht das Musikdrama, das ich zum Unterschiede von jenem das Kunstdrama nennen möchte, das alle Anforderungen idealer Täuschung erfüllt. Sein Gebiet ist vor allem der Mythos und das Wunder, wie Wagner so schön entwickelt und in seinen Werken so herrlich ausgeführt hat. [Anm.: Stoffe wie z. B. Nathan der Weise werden nie Gegenstand des Musikdramas sein können.] Hier verlangen wir die bis zur idealen Naturwahrheit gesteigerte Inszenirung. Durch den Stoff schon dem Uebernatürlichen zugewandt, finden wir das gesungene Wort natürlich, während im Drama das Wort nur in höchsten Momenten gesteigerter Empfindung zum Gesang sich erhebt oder mit der Musik zusammen auftritt. Das gesungene Wort im Musikdrama und das Orchester sind gewissermaßen Seele und Herz des dramatischen Körpers. Daß wir deshalb den herrlichen Schatz unserer „Opern„, die in gewissem Sinne nach heutiger Anschauung, vom Standpunkte des Musikdramas aus betrachtet, nicht Werke reinen Stiles sind, nicht minder hochstellen, als bisher, ist natürlich. Auch die Musikdramen reinster Rasse würden Opern, wie Fidelio, Figaro, Zauberflöte, allein wegen ihres unendlich schönen, geklärten Musikgehaltes nicht todt machen. Ja, daß in unserer Zeit Werke wie Berlioz’ Benvenuto Cellini oder Cornelius’ Barbier von Bagdad, deren Texte nicht besonders bedeutend, nachdem sie nach 50 und 25 Jahren vom Scheintod erwacht sind, nun recht lebendig umherwandeln, ist ein bedeutungsvolles Zeichen. [Anm.: Schon vor etwa 12 Jahren habe ich lang und breit in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ für die Bühnenaufführung des letzteren Werkes geschrieben. Es erfolgte dann ein Jahr darauf in Hannover eine Aufführung, die erfolglos war. Auch Opern haben ihre Geschichte.] Und solcher Werke sind [X] gewiß noch mehr da, die die gerechte Zeit zu Tage fördern wird.

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Was nun die Darstellung anbelangt, so möchte ich behaupten, daß wir mindestens ebenso viel „Material“ im Volke haben, wie die Griechen es hatten. Gesangvereine, die auf der Bühne oder im Saale als zum Allgemeingesang anregend mitwirken würden, haben wir übergenug, und schauspielerisches Talent ist viel mehr im Volke vorhanden, als man gemeinhin glaubt. Im vorliegenden Werke würden sämmtliche Rollen, mit Ausnahme vielleicht der Hutten’s und Sickingen’s, in Händen von Dilettanten liegen. In vielen Städten führen Schüler der Gymnasien Tragödien von Sophokles auf; sämmtliche Rollen werden von den Schülern dargestellt. [Anm.: In Karlsruhe bestand bei einer Aufführung des Philoktet von Sophokles auch das begleitende Streichorchester aus Schülern des Gymnasiums.]

Hier bietet sich ein erfreuliches, reiches Feld wie kaum ein anderes für die Studenten in den Universitätsstädten.

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Der Dichter soll und muß sich endlich die Bühne auch in diesem Sinne, zu diesem Zwecke erobern. – Das historische Drama, das vaterländische Stück, das Festspiel, in welcher Form es sich auch bieten mag, muß zum Bedürfniß des Volkes werden.

„Möchte man aller Orten,“ sagt Schiller, „von dem Vorurtheile zurückkommen, daß theatralische Uebungen Personen von Stand und Ehre schänden! Gewiß würde dies den guten Geschmack allgemeiner verbreiten und die Empfindung des Schönen, Guten und Wahren [XI] durchgängig mehr beleben und verfeinern; sowie zugleich auch Schauspieler von Profession mit einem schärfern Wetteifer den Ruhm ihres Standes zu erhalten sich befleißigen würden!“

Die Sehnsucht Schillers hegen wir noch heute; seine hohe Anschauung von der sittlichen Bedeutung des Theaters ist, Gott sei Dank, die unsere; das Theater kann und soll erhebend und erziehend im Volke wirken: es wird es, indem wir es in innigere Beziehung mit diesem bringen. – Die Vergangenheit, die Geschichte des Volkes ist eines seiner heiligsten Güter. –

Hutten war wie der Adler, der zur Sonne fliegt und geblendet auf einen Felsen stürzt – um einsam seine lichtgierige Seele auszuhauchen. –

Sickingen ist gewissermaßen der kühne Schiffer, der auf dem wilden Meere der Zeit nach Land sucht; Sickingen war nicht ein Ritter, er war der Ritter, der letzte Ritter der alten, der erste Ritter der neuen Zeit! Selbst sein Jahrhundert stellte ihn unendlich viel höher als, es ist schlimm genug, es feststellen zu müssen, die heutige Zeit Bewußtsein von seiner Größe hat und das will viel sagen! –

Daher thut es Noth, dem deutschen Volke unsere beiden Helden zu zeigen, wie sie waren, damit es sie schätzen und ehren lernt. –

„Das Volk, das seine Helden nicht ehrt,

Das ist der Helden auch nicht werth!“

Pegli bei Genua.

Mai 1887.

August Bungert

[Transkription: Christoph Hust]