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Athanasius Kircher: Orpheus und die Macht der Musik
Kapitel I
Die wunderbare Kraft der Musik
Die Magie von Konsonanz und Dissonanz ist nichts anderes, sagen wir, als jene Wirksamkeit der wundersamen Klänge, eine Gewalt, die unter den anderen Arten der natürlichen Magie sicher keinen geringen Rang einnimmt. Einige Klänge besitzen nämlich eine so wunderbare Kraft zu verändern und mitzureißen, dass der menschliche Geist deren eigentliche Ursache offensichtlich kaum zu fassen vermag. Was für ein starker Magnetismus den musikalischen Weisen innewohnt und was für eine gewaltige Anziehungskraft, weiß jedermann, so dass die Alten nicht ohne Grund immer wieder den Musiker und Magier Orpheus anführen, der wilde Tiere, Wälder und sogar Steine mit dem magischen Klang seiner Leier anzog. Über ihn schreibt elegant Claudianus in der Vorrede seines zweiten Buchs über den Raub der Proserpina Folgendes:
Mit Freude griff damals der Sänger beim Fest für sein Vaterland
wieder in die Saiten seiner vernachlässigten Leier,
Und niedersetzend schlug er sachte mit dem Plektrum die Saiten,
führte mit munterem Daumen das edle Elfenbein.Kaum hatte man ihn gehört, legten sich Wind und Wellen,
nur noch träge floss der Hebrus mit wenig Wasser.
Das Rhodepegebirge strecke seine Berge aus, die nach Gesang dürsteten,
und Ossa warf ab, recht geneigt, den kalten Schnee vom Grat.Steil hinab stieg den schneebefreiten Haemus die Pappel,
und ihre Freundin, die Pinie, zog die Eiche als Begleiterin mit sich.
Wie sehr er auch die Phyrreischen Künste Apolls verschmäht hatte,
der Stimme des Orpheus schmiegte der Lorbeer sich an und kam.Mit zärtlichem Blick schauten die Molosserhunde auf den unbesorgten Hasen,
und das Lamm näherte sich dem Wolf und bot ihm seine Flanke.
Einträchtig spielte die Schar der Rehe mit dem Tiger
und die Hirsche scheuten nicht mehr die numidische Mähne.[Claudianus, De raptu Proserpinae II, praefatio, 13–28]
Diese wundersame Anziehung von Tieren, Bäumen und Felsen muss man teils bildlich, teils allegorisch verstehen.
Was es bedeutet,
dass Orpheus Steine angezogen haben soll
Damit gaben die Alten zu verstehen, dass die Macht der Musik in der Seele die größte sei, dass sie sich entsprechend der Unterschiede in den Klängen und Harmonien verändere und ihnen folge, wie Wachs, das man beliebig kneten kann. Deshalb nannten sie die Musik den »Anfang aller Dinge«, wie auch Psellus in seiner Musica sagt:
»Die Musik hält nach Meinung der Alten alles zusammen.«
»τὴν μουσικὴν οἱ πάλαιοι συνέχειν εἶπον τὸ πᾶν.«
Außerdem erkannten sie, dass die Musik die Sitten bilden und verändern kann und dass nichts so leicht in zarte und weiche Herzen eindringe wie der Gesang unterschiedlicher Töne, von denen man kaum sagen kann, welche Wirkung für beides in ihnen wohnt, nämlich träge Menschen anzustacheln und aufgeregte zu beruhigen, einmal die Herzen zu entspannen, sie dann wieder anzuspannen, wie dies später noch ausführlicher dargelegt wird. Steine, Bäume und Tiere, das heißt völlig unverständige, wilde und unermesslich grausame Menschen wurden durch den göttlichen Klang seiner Leier angezogen, und er führte sie zu Menschlichkeit und geselliger Lebensweise. Andere fassen die besagte Anziehung allegorisch auf, indem sie darauf verweisen, dass Orpheus ein großartiger Astrologe und Musiker gewesen sei, der in beiden Künsten sehr erfahren war, so dass er Töne ordnen und mischen und die Harmonie der Himmelsgestirne habe nachahmen können, auf die er sich sehr gut verstand. Und er habe diese Harmonie in derjenigen Weise hervorgerufen, dass er allen Einfluss und alle Kraft der Gestirne zu sich hinabziehen und mithilfe dieser Kraft durch sein Spiel alles, was er wollte, bewegen und auch zur Ruhe bringen konnte. Einige fügen noch hinzu, dass er, da er sehr gut wusste, nach welcher Proportion und mit welchem Zusammenspiel alles von der Natur gebaut und zusammengefügt wurde und was jedem die Sterne bereitet hätten und welchem jeder unterworfen sei, seine Spielweise diesen Dingen und ihren Sternen anpasste und so das Unbelebte durch die Kraft der Sterne in Bewegung gesetzt habe, und dass er, was in ihnen verborgen lag, durch seine Harmonie quasi nach außen brachte, nicht anders, als das Eisen aus dem Stein das darin verborgene Feuer schlägt oder die Luft aus dem Blasebalg die verborgene Flamme [aus der Asche] hervorbringt. Gibt es doch in allen Dingen so etwas wie verborgene Flämmchen und Anlagen und Empfindung für die Harmonie, so dass die Alten sagten, Gott selbst sei die Harmonie von allem.
Das Streben nach Harmonie steckt in allem
Nach der Aussage des Proklos stimmen alle Dinge zusammen Hymnen auf die Anführer ihrer Ordnung an, aber jeweils anders die Wesen von geistiger Art, von verstandesmäßiger, von natürlicher oder nur sinnenmäßiger. Gesetzt also, dass jemand wirklich das Schlagen hörte (sagt Proklos), das einzelne Phänomene in der Luft auf ihr Rund ausüben – wie die Sonnenteilchen auf die Sonne, die Mondteilchen auf den Mond –, so nähme dieser sicher einen besonderen Klang wahr, der wohl passend auf seinen König ausgerichtet ist, von welcher Art immer ihn einzelne Dinge bewirken können.
Es ist bekannt, was diese magnetische Kraft der Musik, die alles bewegt, bei den Menschen bewirken kann. Denn kein Herz kann so verhärtet und wild sein, dass es nicht durch geeignete Melodien und Gesänge, die das Herz umreißen, erweicht würde oder sich auf der anderen Seite gegen unpassende und unstimmige Melodien verschlösse und wehrte.
Einfluss der Musik auf Herzen der Menschen
Ein Lied komponierte Musäus, das als süße Himmelsgabe für die Menschen alles besänftigte. Es dröhnen im Krieg die Trommeln, um den bald Kämpfenden Mut zu machen, Trompeten und Flöten erklingen, um die Herzen der Soldaten im Kampf zu erheben. Der Musiker Timotheus konnte mit seinem phrygischen Gesang Alexanders Herz nach Belieben so anfeuern, dass er ganz wild zu den Waffen rannte. Wollte der Sänger es aber anders, so wechselte er die Tonart, besänftigte Alexanders Wut und zog das beruhigte Herz hin zum Essen und zu Gelagen. Ähnliches lesen wir über einen Kitharöden des Königs von Dänemark. Hat nicht Pythagoras, wie es Cicero bezeugt, einen Jüngling aus Taormina, der durch eine unglückliche Liebe wie durch eine Rossbremse gereizt war, durch seinen Spondeus besänftigt und beruhigt? Sicher wird gesagt, dass Theophrast musikalische Klänge verwendet haben soll, um Stürme und Verwirrungen des Herzens zu bändigen. Als Klytämnestra von einem Kitharöden zur Standhaftigkeit und Keuschheit angehalten wurde, konnte Agamemnon sie deshalb verlassen – so berichtet es uns die Geschichte der Trojaner. Von ihm bezeugt Plutarch, dass er durch Melodien eines Kitharöden so entflammt wurde, dass er Waffen, die ihm gerade im Wege lagen, an sich gerissen und seine gewalttätigen Hände gegen die gerichtet habe, die ihn umgaben.
Musikalische Weisen fesseln nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere. Elefanten werden durch Trommeln angelockt, wie es Strabo bezeugt, Schwäne durch die Kithara, mit süßem Ton singt die Flöte wie ein Vogel, wenn die Doppelflöte sein Lied vortäuscht. Der Bären eingeborene Wildheit und ihre wilde Zügellosigkeit werden allein durch den Klang der Flöte, den sie hören, zur Ruhe gebracht. Mit den Weisen einer Flöte soll Pythagoras einen Angriff von Wölfen abgewehrt haben.
Die Kraft der Musik als Heilmittel für Krankheiten
Schließlich ist die Musik ein ausgezeichnetes Heilmittel, geeignet, um alle Krankheiten zu vertreiben. Dass durch sie Menschen geheilt werden, die an Beschwerden von Ischias, Melancholie, Raserei, Besessenheit und an Vergiftungen leiden, berichten kirchliche und weltliche Erzählungen, wie später dargelegt wird.
Wie die Sache mit der Trompete für Taube zu verstehen ist
Dass auch weniger bekannten Autoren immer wieder behaupten, Asklepiades habe mit einer Trompete Taube geheilt, will ich nicht recht so verstehen, als hätte er dies mit Ton und Klang einer Trompete bewerkstelligt. Wohl aber könnte er mit einem Gerät, das in Form einer Trompete gebaut und in die Ohren von Tauben gesteckt wurde (wie dies heutzutage viele an Taubheit Leidende benutzen; der Bau des Geräts wird im Folgenden mitgeteilt), die Gestalt der Klänge und der Wörter zusammengefügt und durch unterschiedlichen Widerhall mithilfe des Gerätes im Ohr eines Tauben besser hörbar gemacht haben. Dadurch könnte auf wunderbare Weise den Tauben geholfen worden sein. So ist der Kern der Erzählung aufzufassen, nach welcher Asklepiades Taube mit dem Klang einer Trompete geheilt habe.
Dies vorausgeschickt – wollen wir jetzt nicht betrachten, welcher Magnetismus in der Musik wirkt, um die Herzen anzuziehen? Welche Proportionen die Konsonanzen haben müssen, so dass wir uns an ihnen beim Hören so sehr erfreuen, und was es mit der musikalischen Zahl, dem Gewicht und der Mensur sowohl bei den Klängen als auch im Gehör oder auch in der Seele auf sich hat, je nachdem, ob sie sich an Klängen erfreut oder aber beim Hören von irgendeinem Leidgefühl übermannt wird? Es gibt nämlich Klänge, die so lästig und misstönend sind, dass durch ihre Unkultiviertheit die Zähne von selbst knirschen. Und dann wieder andere, die so stimmig und kultiviert sind und die so süß einströmen, dass sie die Seele zu entrücken scheinen.
Unterschiedliche Meinungen über die Kraft der Musik
Wenn ich mir das anschaue, so lässt es sich kaum sagen, wie groß die Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten der Autoren bezüglich der Kraft und Wirkung solcher Harmonie sind und wie sehr die Meinungen fast aller Autoren über die Konsonanzen der Gesänge auseinandergehen, wobei einige diese Kraft Gott als der Quelle jeglicher Konsonanz oder einer aus Zahlen aufgebauten Seele zuweisen, andere irgendeinem himmlischen Einfluss oder einem kabbalistischen Dekachordum, wieder andere einem geheimnisvollen Mitempfinden der Seele mit den musikalischen Zahlen und viele Autoren den Gesetzen der Geometrie. All diese, die so uneins sind und sich geradezu mit der Wahrheit im großen Missklang befinden, lassen wir hinter uns und wollen endlich ans Licht bringen, was wir über die ziehende Macht der Musik, die den Geist anzuziehen versteht, feststellen können und mit welchen Verfahrensweisen und mit welchem Verlauf sie ihre unterschiedlichen Einflüsse nicht nur auf Menschen, sondern auch auf wilde Tiere ausübt.
Athanasius Kircher: Musurgia universalis, Rom 1650
MU B, IX 1.1, S. 201–203
Marc-Antoine Charpentier: La Descente d’Orphée aux Enfers
Clarissa Renner
La Descente d’Orphée aux Enfers von Marc-Antoine Charpentier
Als eine der letzten Auftragskompositionen für das Haus de Guise vertonte Marc-Antoine Charpentier Ende 1686 / Anfang 1687 den Orpheus-Stoff – und zwar schon zum zweiten Mal. Bereits einige Jahre zuvor hatte er sich des Mythos angenommen und eine Kantate für drei Männerstimmen (mit Orpheus, Tantalus und Ixion als handelnden Personen) und Instrumentalensemble geschrieben. Orphée descendant aux Enfers (H 471) gilt heute als die erste französische Kantate.[1]
Charpentier war nach seiner Rückkehr aus Rom im »Hôtel de Guise« untergekommen und unterstand als hauseigener Komponist den Wünschen der Hausherrin, der offenbar nach einem Bühnenstück auf der Grundlage des Orpheus-Mythos zumute war.[2] Dieses Werk, La Descente d’Orphée aux Enfers (H 488; der Librettist ist unbekannt), ist autograph in den Mélanges autographes überliefert und niemals in einem zeitgenössischen Druck erschienen: Der Protektionismus und die gewollte Exklusivität der Mäzene hatten den Ausschluss der Öffentlichkeit zur Folge, sodass auch kein anderes Werk Charpentiers aus dieser Zeit gedruckt wurde.[3] Seit der letzte männliche de Guise verstorben war, experimentierte die Witwe Madame de Guise mit der Ausrichtung diverser vergnüglicher Veranstaltungen.[4] Die von ihr in Auftrag gegebenen Kammeropern wurden teils am königlichen Hof aufgeführt, wo Madame de Guise den Winter verbrachte und Charpentier Kontakte zu den Musikern des Dauphin und dem Kronprinzen selbst knüpfen konnte,[5] teils in der Pariser Residenz ihrer Schwester, der Mademoiselle de Guise.[6] Charpentiers Orpheus-Oper war also in jedem Fall einer Elite vorbehalten und wurde bis zur Wiederentdeckung vermutlich auch nur ein einziges Mal konzertant[7] aufgeführt.
Im Frankreich des 17. Jahrhunderts bestand eine Reihe von musiktheatralen Gattungen nebeneinander, was die Einordnung von Charpentiers Orphée erschwert. Eine Tragédie lyrique kann aufgrund des fehlenden allegorischen Prologs und der differierenden Zahl der Akte als Modell ausgeschlossen werden.[8] Die eingefügten Tänze, die zum Teil durch die Angaben in der Partitur eindeutig auf Affekte bezogen sind, könnten eine Comédie-ballet plausibel erscheinen lassen, in der versucht wurde, Tanz und Musik nicht abzugrenzen, sondern in der Verbindung der Künste ein intermediales Theatererlebnis zu schaffen.[9] Gilbert Blin rechnet La Descente d’Orphée aux Enfers aber der »großen französischen pastorale en musique« zu.[10] Die Merkmale einer Pastorale werden besonders im ersten Akt deutlich, wenn die Nymphen Daphne, Enone (Oinone) und Aréthuse mit Euridice auf einer Wiese die Vermählung des Brautpaares feiern und der Bach durch die Wassernymphe Aréthuse und die Vögel durch die Bergnymphe Enone angerufen werden, in den fröhlichen Gesang einzustimmen. Neben dem Chor der Nymphen tritt auch ein Chor der Hirten auf, der den pastoralen Charakter weiter verstärkt. Charpentier wählt für den Beginn die Tonart A-Dur, die er selbst später für den Ausdruck eines fröhlichen Affekts und einer ländlichen Umgebung empfahl.[11]
Die Oper bezieht sich auf die Lesart des Mythos nach Ovids Metamorphosen, die aber durch einige Elemente erweitert wird. So fällt die Rolle des Boten bei Charpentier weg. Stattdessen stößt Orphée zufällig zum Geschehen und Euridice stirbt schließlich in seinen Armen. Wie in Monteverdis L’Orfeo[12] (bei Charpentier allerdings noch im ersten Akt) hält ihn sein Vater Apoll vom Selbstmord ab. Er rät ihm, stattdessen Euridice in die Unterwelt zu folgen und um ihre Rückkehr zu bitten. Der zweite Akt erscheint als Kernstück dieser Geschichte und ist sehr ausführlich ausgearbeitet. Die erste und zweite Szene ist den drei Sündern Tantalus, Ixion und Tityos vorbehalten, die, nachdem sie ihre ewigen Qualen besungen haben, durch den Gesang des Orphée von ihren Strafen zumindest für eine kurze Zeit befreit werden: Hier wird zum ersten Mal in Charpentiers Oper die Wirkungskraft der Musik auf der Bühne dargestellt.
Wenn nun Orphée vor Pluto tritt, um mit seinem Gesang dessen Mitleid zu erwecken, gelingt ihm das zunächst allerdings nicht. Pluto bleibt über eine lange Zeit standhaft, während Proserpine und die Geister der Unterwelt schon längst zu Tränen gerührt sind. Schließlich scheint es nicht die Musik, sondern der Blick Proserpines zu sein, der Pluto umstimmen kann und Euridice unter der unheilvollen Bedingung des Blickverbots an Orphée zurückgibt. An dieser Stelle endet der zweite Akt und mit ihm die überlieferte Partitur. Der dritte Akt ist nicht erhalten.[13]
Auch mit dem kleinen Ensemble, das ihm zur Verfügung stand, gelang es Charpentier, zwischen den verschiedenen Örtlichkeiten der Szenen zu differenzieren. So sind die zwei Traversflöten die musikalischen Begleiter der Euridice. Solange Orphée auf der Erde weilt, begleiten ihn zwei Violinen, wenn er schließlich in die Unterwelt hinabsteigt, übernehmen zwei Gamben diese Funktion. Im mutmaßlich abschließenden dritten Akt hätte Orphée wohl ein zweites Mal in die Unterwelt hinabsteigen müssen, nachdem die Mänaden ihn ob seiner Absage an das weibliche Geschlecht getötet hatten. Dieser zweite Gang in die Unterwelt schwebt als Moral der Geschichte für den wissenden Zuhörer von Beginn an über dem Werk. Auch ahnt Orphée selbst das Unheil, wenn er zum Ende des zweiten Aktes sagt: »Amour, brûlant Amour, pourras tu te contraindre? Ah! Que le tendre Orphée à lui même est à craindre« (»Liebe, glühende Liebe, kannst du dich wohl beherrschen? Ach! Wie sich der liebende Orpheus vor sich selbst fürchtet«). Dennoch stellt er mit seinem zweiten Gang in die Unterwelt das Gleichgewicht zu dem zweimaligen Sterben der Euridice her.
Literatur:
Blin, Gilbert: La Descente d’Orphée aux Enfers, Booklet zur Aufnahme des Boston Early Music Festival, übersetzt von E. van den Hoogen, 2014.
Hitchcock, Hugh Wiley: La Descente d’Orphée aux Enfers H. 488, Booklet zur Aufnahme William Christie, übersetzt von I. Trautmann, 1995.
Lattarico, Jean-François: Thésée, la première des tragédies, in: L’Europe Baroque. Oper im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. von Isolde Schmid-Reiter und Dominique Meyer, Regensburg: ConBrio, S. 65–71.
La Laurencie, Lionel de: Un opéra inédit de M.-A. Charpentier: La Descente d’Orphée aux Enfers, in: Revue de Musicologie 10, 1929, Nr. 31, S. 184–193.
Ranum, Patricia M.: Charting Charpentier’s ‘Worlds’ through his Mélanges, in: New Perspectives on Marc-Antoine Charpentier, hrsg. von Shirley Thompson, Farnham: Ashgate 2010, S. 1–29.
Schroedter, Stephanie: Modelle der Interaktion von Tanz und Musik im französischen Theater des 17. und 18. Jahrhunderts: Ballet de Cour, Comédie ballet, Tragédie lyrique und Opéra ballet, in: L’Europe Baroque. Oper im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. von Isolde Schmid-Reiter und Dominique Meyer, Regensburg: ConBrio, S. 73–94.
[1] Hugh Wiley Hitchcock, La Descente d’Orphée aux Enfers, S. 14.
[2] Zu Anlass und Auftraggeberschaft der Komposition siehe auch Gilbert Blin, La Descente d’Orphée aux Enfers, S. 19f.
[3] Patricia M. Ranum, Charting Charpentier’s ‘Worlds’ through his Mélanges, S. 4.
[4] Ebd., S. 13.
[5] Es ist also anzunehmen, dass die Oper im Beisein des Dauphin aufgeführt wurde, zumal einige seiner Musiker diejenigen der Madame de Guise unterstützten: vgl. Gilbert Blin, La Descente d’Orphée aux Enfers, S. 20.
[6] Patricia M. Ranum, Charting Charpentier’s ‘Worlds’ through his Mélanges, S. 20.
[7] Gilbert Blin zieht sogar eine Aufführung in Zweifel und hält die Angaben in der Partitur zur Sängerbesetzung für ein Indiz, dass das Werk nur geprobt, eine szenische Aufführung aber intendiert war (La Descente d’Orphée aux Enfers, S. 17).
[8] Jean-François Lattarico, Thésée, la première des tragédies, S. 66.
[9] Stephanie Schroedter, Modelle der Interaktion von Tanz und Musik im französischen Theater des 17. und 18. Jahrhunderts, S. 81.
[10] Gilbert Blin, La Descente d’Orphée aux Enfers, S. 15.
[11] Hugh Wiley Hitchcock, La Descente d’Orphée aux Enfers, S. 15.
[12] Es stellt sich die Frage, ob Charpentier diese Oper vielleicht in seiner Zeit am Jesuitenkolleg und als Schüler von Carissimi in Rom kennengelernt hatte.
[13] Es gibt keine expliziten Hinweise auf einen dritten Akt. Es könnte also auch sein, dass es nie einen gegeben hat oder dass die Oper nicht vollendet wurde. Die Literatur ist sich aber im Grunde einig, dass es einen verlorengegangenen dritten Akt gegeben haben muss. Gilbert Blin erklärt ausführlich, warum aus seiner Sicht ein Ende nach dem zweiten Akt gar nicht denkbar wäre (La Descente d’Orphée aux Enfers, S. 15f.).
Claudio Monteverdi: L’Orfeo
Katharina Konrad
Einigkeit und Kontrastierung in Claudio Monteverdis L’Orfeo
Lange hielt man Claudio Monteverdis L’Orfeo für die erste Opernkomposition überhaupt. Für die Stadt Mantua stellte sie tatsächlich den Beginn der neuen Gattung dar, jedoch war der Orpheus-Stoff bereits um 1600 von Jacopo Peri und Giulio Caccini in Florenz vertont worden. Deren Versionen gelten heute überwiegend als »Opernversuche«,[1] wogegen Monteverdis L’Orfeo als erstes musikalisches Drama mit »werkhaftem Charakter«[2] angesehen wird. Innovativ gegenüber seinen Vorgängern zeigt sich Monteverdi durch die erstmals in der Partitur fixierte Akteinteilung.[3]
Die drei Komponisten sind sich zwar in der Stoffwahl einig, in der Ausarbeitung unterscheiden sie sich jedoch gänzlich. Peri und Caccini bedienten sich am Text von Ottavio Rinuccinis L’Euridice, aus Alessandro Striggios Feder stammt hingegen Monteverdis Libretto, bei dessen Gestaltung der Komponist wohl auch selbst mitgewirkt hat. Erstere stellen die arkadische Gemeinschaft in den Mittelpunkt und nutzen durchgängig Rezitation mit Generalbass, wohingegen Monteverdi den Fokus auf Orfeo als Individuum legt und ihm virtuose Soloabschnitte gibt. Besonders neu für das Publikum war auch die Tatsache, dass während des gesamten Stücks »singend gesprochen« wird. Was uns heute als völlig normal erscheint, verursachte der ersten Operngeneration Kopfzerbrechen: das Singen des dramatischen Dialogs. Es entsprach der verosimiglianza, der Wahrscheinlichkeit, dass Menschen beim Kommunizieren sprechen, nicht etwa singen.[4] Peri und Caccini bemühten sich also um einen Kompromiss zwischen Rezitation und Gesang, doch ließ sich der Widerspruch nicht einfach aus der Welt schaffen.
Es galt einen Kunstgriff einzusetzen: An welchen Ort könnte man das Geschehen versetzen, an dem das Singen nicht als unnatürlich wahrgenommen würde? Die Antwort lautet: nach Arkadien, »wo der Gesang im täglichen Leben nichts Ungewöhnliches war, wo die Poesie ihre Heimat hatte, und wo über allen Leidenschaften, edlen und bösen, der golddurchwirkte Schleier eines friedvollen Paradieses lag.«[5] Der verosimiglianza zuliebe gab es nun den Ortswechsel von Thrakien nach Arkadien, so dass Orpheus von musikbegabten Hirten und Nymphen umgeben war.
Inhaltlich setzt sich die Oper mit der Wirkung von Musik auseinander und betritt mit dieser Selbstreflexion eine metadramatische Ebene. Besonders deutlich wird das im Prolog, einem aus der Tragödie übernommenem Element, in dem die personifizierte Musica einen Teil der Handlung vorwegnimmt. Nicht die Wiedergabe der Handlung steht also im Mittelpunkt, sondern die Art der Darbietung ist entscheidend,[6] mit welchen Mitteln der Komponist und die ausführenden Künstler den Zuschauern den Stoff vermitteln wollen. Ebenso verwunderlich scheint die Anweisung an das Publikum, es solle regungslos dem Bühnenspiel folgen. Bei einer tragischen Liebesgeschichte klingt das zunächst paradox, doch soll sich der Zuhörer vielleicht seine Urteilsfähigkeit erhalten und nicht wie Orfeo an seinen unkontrollierten, übergroßen Gefühlen scheitern. Der Prolog als Formteil an sich verweist schon auf die antike Tradition, so wie die Tatsache, dass es einen Illusionsbruch durch die Ansprache des Publikums gibt, der im antiken Theater noch kein Tabu darstellte: Handlung und Aufführungssituation müssen nicht streng voneinander getrennt werden.
Passend zur Thematisierung der Wirkungsweise von Musik schließt sich die Wahl des Protagonisten an. Als Sohn von Apollon, dem Gott der Musik, gelingt es Orpheus, selbst die unbelebte Natur mit seinem Gesang zu bewegen. Auch der Komponist Monteverdi sieht den Zweck der Musik darin, die Herzen der Zuschauer zu rühren. Damit stellt er sich gegen den älteren Kunstbegriff, der den Verstand als letzte Instanz zur Beurteilung von Musik ansah.[7] Monteverdi wollte mit spontanen, überraschenden und außergewöhnlichen Wendungen in der Musik die Zuhörer bewegen (»muovere«). Die Art des Sprechens und des Vortrags folge doch schließlich dem Zustand der Seele. Mit seiner seconda pratica betont Monteverdi, dass es ihm nicht um die strikte Befolgung von Gesetzmäßigkeiten und Regeln gehe, sondern die oberste Prämisse solle sein, dem Textinhalt gerecht zu werden.[8] »Der Textvortrag ist die Herrin des musikalischen Satzes und nicht ihre Dienerin.«[9] Also spürt Monteverdi den emotionalen Gehalt in den Worten auf und bringt ihn beispielsweise in dissonanten Fortschreitungen zum Vorschein. Zudem traut er sich, Dissonanzen frei eintreten zu lassen, anstelle der satztechnisch »erlaubten« Vorhalts- und Durchgangsdissonanzen. Auch vor Moduswechsel innerhalb eines Stücks, welcher der musikalischen Einheit des Werkes widerspricht, jedoch einen Wechsel der Affekte veranschaulicht, schreckte Monteverdi nicht zurück. Die konträren Affekte im L’Orfeo stechen deutlich in Auge und Ohr: Freude im paradiesischen Arkadien, Schmerz und Klage in den Unterweltszenen. Insgesamt nutzt Monteverdi das ästhetische Prinzip des Kontrastierens häufig, um die verschiedenen Welten auszuschmücken. Auffällig ist dies zum Beispiel am Grundinstrumentarium: überwiegend Saiteninstrumente für die Oberwelt, Posaunen, Zinken und kleine Orgel für die Unterwelt.
Eine weitere Frage, die sich aufdrängt, lautet: Ist Orpheus ein Held oder ein Versager? Seine besondere Sangesgabe kann Caronte einschläfern und eröffnet dem Sänger den Zugang zur Unterwelt, doch der dortige Herrscher Plutone lässt sich mehr von den Worten seiner Frau Proserpina als von Orpheus’ Gesang überzeugen. Orpheus setzt seine Kunst nicht richtig ein, Erfolge bleiben aus, nicht einmal sich selbst kann er besänftigen.[10] Wie lässt man ein solch tragisches Spiel nun enden? Die Antwort ist nicht leicht, denn Libretto und Partitur bieten verschiedene Ausgänge. Orfeo beklagt sein Schicksal und schwört, da er seine geliebte Eurydike nicht haben kann, allen Frauen ab. Rinuccini, der seinen Text für eine Hochzeit verfasste, sah sich einem glücklichen Ende dermaßen verpflichtet, dass Orfeo seine Gattin Eurydike ohne Bedingungen aus der Unterwelt hinausführen kann und mit ihr glücklich vereint sein Leben verbringt. Die ausbleibende Katastrophe lässt den Konflikt zwischen Gefühlshingabe und Selbstbeherrschung sowie Übermut und Schicksalsfügung vermissen. Striggios Libretto distanziert sich dagegen von einem beseelten Ende: Orfeo muss vor den nach Rache dürstenden Bacchantinnen fliehen. Monteverdi schlägt versöhnliche Töne an. Orfeo ist der Liebe so hingegeben, dass er irdischem Begehren nicht entsagen kann, um sich dem überirdischen Ideal, der Tugend (»virtute«), zu verpflichten.[11] Daher kann der Sünder Orfeo zum Opernende nicht wieder mit seiner geliebten Frau zusammengeführt werden, doch wird ihm auf einem anderen Weg Erlösung zuteil. Anstelle der vergänglichen Liebe zu Lebzeiten wird Orfeo das ewige Leben an der Seite seines göttlichen Vaters Apoll geschenkt, von wo aus er Eurydikes Antlitz in den Sternen betrachten kann. Damit gelingt Monteverdi der Spagat zwischen Mythentreue und der Forderung nach einem lieto fine, er vereint zwei Forderungen in einem hoffnungsvollen Ende. Der Erfolg gibt ihm recht: Nach der Premiere folgten mehrere Aufführungen sowie ein zweifacher Druck der Partitur, als einzige Oper des 17. Jahrhunderts.
Literatur:
Leopold, Silke: Claudio Monteverdi und seine Zeit, Laaber: Laaber-Verlag 2002.
Orfeo. Orpheus und Eurydike, hrsg. von Attila Csampai und Dittmar Holland, Reinbek: Rowohlt 1988.
Osthoff, Wolfgang: Claudio Monteverdi. L’Orfeo. In: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Oper, Operette, Musical, Ballett, hrsg. von Carl Dahlhaus und dem Forschungsinstitut Musiktheater der Universität Bayreuth, Bd. 4, München: Piper 1991, S. 241–244.
L’Orfeo. In: Lexikon der Oper, hrsg. von Elisabeth Schmierer, Laaber: Laaber-Verlag 2002, S. 293–295.
[1] Wolfgang Osthoff, L’Orfeo, S. 243.
[2] Ebd.
[3] L’Orfeo, hrsg. von Elisabeth Schmierer, S. 294.
[4] Orfeo, hrsg. von Attila Csampai und Dittmar Holland, S. 128f.
[5] Ebd., S. 129.
[6] Ebd., S. 32.
[7] Vgl. Silke Leopold, Claudio Monteverdi, S. 62.
[8] Ebd.
[9] Ebd.
[10] Orfeo, hrsg. von Attila Csampai und Dittmar Holland, S. 37f.
[11] Vgl. ebd., S. 34.