Startseite » Beitrag verschlagwortet mit 'Musikgeschichte'
Schlagwort-Archive: Musikgeschichte
Musikgeschichte, Stand 1878
Am 22. September 1878 hielt Joachim Raff als Gründungsdirektor von Dr. Hoch’s Conservatorium in Frankfurt am Main seinen Inaugurationsvortrag. Raff stellte einen Abriss der Musikgeschichte von der Antike bis in die Neuzeit vor, der die Frage beantworten sollte, weshalb es Konservatorien geben müsse. Heute ist seine Rede (die damals in der „Neuen Frankfurter Presse“ abgedruckt wurde) als historisches Dokument faszinierend. Auch wenn nach heutigem Wissensstand sicherlich nicht alles stimmt: Die hegelianische Argumentation, die Suche nach gemeinsamen, geschichtsphilosophisch bestimmten Begründungen aller Künste (und damit der Versuch einer integrierenden „Kulturgeschichte“) und die Ursache-Wirkungs-Ketten, die Raff auf deren Basis konstruiert, sind bezeichnend für das Geschichtsbild des 19. Jahrhunderts.
Hochverehrte Anwesende!
Sie haben aus dem Munde des Herrn Vorsitzenden der Administration der Dr. Hoch’schen Stiftung soeben Alles erfahren, was über Ursprung und Zweck dieser Stiftung, sowie über die bisherige Geschichte ihres Objectes zu sagen war. Es erübrigt mir nur, dem hochverehrten Vorredner für sein Exposé zu danken, womit er auch heute wieder, wie von Anbeginne, seine liebevolle Hingabe an die Angelegenheiten unseres Institutes bethätigt hat, und zu versuchen, ob es mir gelinge, Ihnen in möglichster Kürze einige Andeutungen über die Aufgabe solcher Anstalten, wie die unserige es sein soll, zu geben.
Der Name Conservatorium kömmt von conserviren, erhalten. Es soll also in so benannten Anstalten Etwas erhalten werden, was die Musik unmittelbar angeht. Dieses zu Erhaltende kann nicht die musikalische Production selbst sein, denn diese geht nicht von einem ganzen Institute, sondern von einzelnen Personen aus. Es kann also nur auf Erhaltung dessen abgesehen sein, was die Hervorbringung des musikalischen Kunstwerkes technisch bedingt, und auf die Erhaltung derjenigen Elemente, welche eine gute Wiedergabe desselben sichern. Das erstgenannte sind die für das Schaffen, wie für das Erfassen des Geschaffenen nöthigen theoretischen Kenntnisse, die letztgenannten die vocalen und instrumentalen Mittel der Ausführung. Fassen wir Beides unter dem Namen Technik zusammen.
Das musikalische Kunstwerk nun ist, wie jedes andere, persönlich, örtlich und zeitlich bedingt. Die Summe dieser Bedingungen nennen wir Styl. Und dieser bildet dann das zweite Object der Conservatorien. Erhaltung der Technik und des Styles also ist die Aufgabe musikalischer Conservatorien. Der Ausdruck Conservatorium ist trotz seiner lateinischen Abstammung modern; die Sache aber, die er bezeichnet, ist schon sehr alt, wie hier in Kürze nachgewiesen sein soll.
Der Mensch bildete zuerst jene spontanen Vorrichtungen zur Kunst aus, zu welchem er keines fremden Werkzeugs bedurfte, den Gesang, den Tanz, die Dichtkunst. Die ersten Tonwerkzeuge, welche dem Menschen gleichsam von der Natur dargereicht wurden, waren die Rohrpfeife, das Horn, die Muschel. Um zur Saite zu gelangen, war schon eine längere Zeit nöthig; der Bogen gehört sogar erst der neueren Kunst an. Erwarten Sie nicht, daß ich an dieser Stelle Ihnen zeige, wie aus der Panspfeife sich nach Jahrtausenden die Orgel entwickelt, – aus dem schon den Alten bekannten Hackbrett und der Harfe das moderne Klavier, und was ähnlicher Metamorphosen mehr sind. Ich will vielmehr nur noch erwähnen, daß die Alten über Melos und Rhythmus nie hinauskamen, und daß die gewaltigsten, geschichtlichen Umwälzungen nöthig waren, damit vor etwa 900 Jahren auf keltogermanischem Boden die Wunderblume der Harmonie ersprießen konnte.
Die Entwickelung unserer Kunst nahm ihren Verlauf ungefähr wie die der Poesie. Erst kam die Praxis, dann die Theorie. Um ein Werk wie die Poetik des Aristoteles zu veranlassen und zu ermöglichen, waren Jahrhunderte, und in diesen Homer, Sophokles und Aristophanes nöthig.
So mag es lange gedauert haben, bis eine Art von Melodie gefunden war, die je nach ihrer mehr sang- oder spielbaren Beschaffenheit entweder sich mit Poesie verband, oder zur Begleitung des Sanges diente, womit denn der Ursprung der Vocal- und Instrumentalmusik bereits angedeutet ist.
Die sinnlichen Culte, welche den meisten Völkern des Alterthums eigen waren, machten nun alsbald vom Gesange wie vom Tanze bei bedeutenden Feierlichkeiten ergiebigsten Gebrauch, und es läßt sich annehmen, daß sowohl bei den Egyptern, als in Mesopotamien hieratische Schulen für die Fortpflanzung der betreffenden Tonweisen und ihres Vortrags bestanden. Deutlicher tritt dies dann bei den Juden hervor, wo schon zur Zeit Samuels in den Versammlungen der Nebiim oder Propheten der Gesang mit Saiten (d.h. Kneif-) und Blasinstrumenten begleitet wurde, und die Musikpflege solche Fortschritte machte, daß zur Zeit Davids bereits jeder Chor seinen Vorsänger, jedes Orchester seinen Solospieler (Menasséach) hatte, welche die Aufführungen leiteten und die vorkommenden Soli vortrugen, was voraussetzt, daß hier schulmäßig studirt wurde, und daß die betreffenden Weisen von Mund zu Mund und von Hand zu Hand überliefert wurden.
Nicht viel anders verhielt es sich bei den Griechen. Nur war die öffentliche Anwendung der Musik bei ihnen eine ausgedehntere, weil sie bereits Theater hatten. In diesen trat erst der Chor mit Orchesterbegleitung auf; später, als der Chor abgeschafft wurde, spielte das Orchester allein. Chor und Orchester waren von der Choregie ständig angestellt. Musik wurde in den Schulen gelehrt; die größten Philosophen betrachteten sie als ein Erziehungsmittel. Schon von Pythagoras an war sie Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen und endlich ward dem die Krone aufgesetzt durch Erfindung einer Notenschrift, welche, obgleich nach unseren Begriffen complicirt und schwierig, doch die Verbreitung und Erhaltung der Lehre mächtig unterstützte. Daß man noch zur Zeit des Aristophanes auf eine stylvolle Wiedergabe der überkommenen Weisen hielt, und Neuerungen, die hiegegen verstießen, nicht gerne sah und hörte, erhellt aus den Versen des Dichters in seiner Komödie »Die Wolken«:
»Doch wenn sich nur einer zu schäkern erlaubt oder Schnörkel aufschnörkelt der Weise,
Wie jetzt es die Schule des Phrynis erheischt, mit erkünsteltem, schwierigem Getriller,
Da regne es Schläg’ in reichlichem Maße, als seien die Musen gefährdet.«
Mit Griechenland hatte die Musik der Alten ihren Gipfelpunkt erreicht. Das kriegerische Rom war unmusikalisch, und wenn auch auf seinem Boden die griechische Musik heimisch wurde, so ging sie doch nicht in Fleisch und Blut des Volkes über, sondern blieb zumeist Eigenthum der Gebildeten.
Das Christenthum und die Völkerwanderung bahnten eine neue musikalische Cultur an. Weisen, die man sonst in den Tempeln des Orients und Griechenlands vernahm, mögen wohl, mit christlicher Textunterlage versehen, anfänglich bei den religiösen Ceremonien der Christen gesungen worden sein. Diese Weisen wurden wahrscheinlich in den ersten Seminarien tradirt und von Gregor dem Großen aufgeschrieben und mit neuen vermehrt. Das schon von Ambrosius inaugurirte Tonsystem wurde von Gregor erweitert und zugleich eine Notenschrift, die Neumen, eingeführt, aus welcher nach tausend Jahren und stetigen Wandlungen unsre gegenwärtige Notenschrift hervorging. Eine Sängerschule überlieferte den Vortragsstyl dieser Weisen, und christliche Fürsten, wie z.B. Karl der Große, versahen sich zu gleichem Zwecke mit Sängern aus der besagten Schule.
Bald war der neue Gesang in den Klöstern eingeführt, und hier entstanden später die ersten Diaphonien, die Anfänge des Contrapunktes, aus welcher nachher die moderne Harmonie abstrahirt wurde.
Die große Antithese, welche aus der Vereinigung der den alten Glaubenskreisen entgegengesetzten Religion der Transcendenz mit dem Genius der skandinavischen und keltogermanischen Völker entstehen und der Antike im weitesten Sinne gegenüber treten sollte, bildete sich mehr und mehr aus, bis endlich in der Architectur der im griechischen Tempel vorherrschenden horizontalen Linie die den gothischen Dom characterisirende Verticale, in der Poesie dem Classicismus die Romantik, in der Musik der Melodie die Polyphonie gegenüber stand, und selbst in der Malerei, wo es lediglich auf mehr oder minder glückliche Nachahmung der Natur ankam, durch die Erfindung der Oelmalerei ein technisches Medium gefunden war, welches diese Kunst einer ungeahnten Vertiefung entgegenführen half.
Wie nun später der romanische Geist in der Renaissance eine partielle Reaction erzeugte, welche auch in der Entwickelung unserer Kunst von nachhaltigen, stets noch fühlbaren Folgen begleitet war, soll hier nicht erörtert werden. Es genüge zu sagen, daß in der neuen Kunstmusik sehr bald ein mächtiger Aufschwung stattfand, den die Kirche begünstigte, und daß auch die Volksmusik, insbesondere die Instrumentalmusik bald den gewaltigen Einfluß derselben verspürte. Die allmäligen zweckmäßigeren Aenderungen in der Notenschrift, endlich die Erfindung der Buchdruckerkunst, welche bald auch den Typen-Notendruck im Gefolge hatte, erleichterten außerordentlich die Verbreitung einer gleichmäßigen Technik. Hierzu kam später die strenge Zucht in den Zunftschulen der Meistersinger und Stadtpfeifer, welche, namentlich bei ersteren, schließlich in Pedanterie ausartete.
Wenn auch die religiösen Wirren am Ausgange des Mittelalters einen bedeutenden Rückschlag auf unsere Kunst ausübten, so läßt sich nicht leugnen, daß doch die politische Gestaltung Deutschlands nach dem westfälischen Frieden der weiteren Entwickelung der Musik um so günstiger war, als diese letztere gerade um diese Zeit in allen anderen südlich und westlich von uns gelegenen Culturvölkern einen bedeutenden Aufschwung nahm. Demnächst stellte sich eine enorme Production ein, für welche in den zahlreichen Capellen reichsunmittelbarer geistlicher und weltlicher Herren, wie an den Instituten größerer Höfe ebenso Bedürfniß als Verbrauch war. Später, nachdem das ganze Material der Tonkunst: Production, Aufführung, Schrift, Druck bereits eine große Vervollkommnung erreicht hatte, drängte sich immer mehr die Nothwendigkeit auf, durch zweckmäßige Anstalten die Erkenntniß jener Werke und die Art ihrer Aufführung sicher zu stellen, sowie auch die Summe des jeweiligen technischen Vermögens zu erhalten und zu überliefern, was zuerst in Italien durch Errichtung von Conservatorien geschah. Diesem Beispiele folgte nach und nach Frankreich, Deutschland, Belgien und Rußland. Der Zweck ist bei allen diesen Instituten der nämliche, indessen wieder in verschiedenem Umfange verfolgt und erreicht, je nachdem die Zahl der Unterrichtsgegenstände größer oder kleiner, die Lernzeit länger oder kürzer ist. Einige Institute sind Convicte, andere nicht, einige sind Staats-, andere Privatanstalten. In Deutschland sind ihrer Entstehung nach die bemerkenswerthesten die Conservatorien in Wien, Prag, Leipzig, Cöln, Stuttgart, München, Berlin, Dresden. Die Aufgabe der Conservatorien wächst mit jedem Jahr, und schon jetzt ist es kaum mehr möglich, die Lernzeit, welche übrigens in Italien ursprünglich auf acht Jahre festgesetzt war, auf vier Jahre zu beschränken.
Ist nun die Summe des zu Ueberliefernden an sich groß, so bedarf es nur des Hinweises auf die Thätigkeit wissenschaftlicher Institute, um zu dem Schlusse zu gelangen, daß die Arbeit hervorragender Lehrer nicht mehr bloß eine epimatheische sein könne, welche sich und andere darauf beschränkt, das Vorhandene und Vergangene blos kennen zu lernen, sondern daß sie das Erkannte und Bekannte zu befruchten wisse, und eher der Zeit vorangehe, als hinter ihr zurückbleibe.
Es darf nicht verheimlicht werden, daß, einzelne Erscheinungen abgerechnet, die Kunst gegenwärtig ungleich mehr in die Breite als in die Tiefe geht; auch nach dieser Seite haben wir eine große Aufgabe zu erfüllen, indem wir den Sinn der uns anvertrauten Zöglinge an das Inhalt- und Charactervolle in der Kunst gewöhnen, und das Oberflächliche und Gehaltlose von ihnen fern halten.
Vergessen wir nie das schwer wiegende Wort unseres Schiller, der uns zuruft: Die Kunst sinkt mit Euch, mit Euch wird sie sich heben!
Mit diesen Anschauungen und Gesinnungen werde hier an die Arbeit gegangen, und bei ihrem Beginn ertönen uns zu einer – so Gott will – glücklichen Vorbedeutung die Klänge unsterblicher Meister!
[Transkription: Christoph Hust]