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Archiv für den Monat Juni 2017

Philip Glass: Orphée (nach Jean Cocteau)

Charlotte Tauber

Französischer Surrealismus trifft amerikanischen Minimalismus – Philip Glass’ Orphée

Was haben der 1963 verstorbene französische Surrealist Jean Cocteau und der 1937 in Baltimore geborene Mitbegründer der Minimal Music Philip Glass gemeinsam?

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Glass kam früh mit Cocteaus Werken in Berührung, so auch mit dessen legendärer Verfilmung des Orpheus-Mythos von 1949/50. Im Alter von 15 Jahren sah Glass diesen Orphée, verstand aber laut eigener Aussage nichts – »Cocteau gibt einem nicht alle Antworten«, so Glass. Ein Umstand, der auf Seiten des Regisseurs und Autors auf Absicht beruhte: Teil der rätselhaften Werke Cocteaus war immer das Nicht-Verstehen, das Wundern. Der Drang, alles begreifen zu müssen, widerstrebte ihm. Cocteau meinte dazu:

»Es gibt keine schlüssige Handlung. Ich werde die Wirklichkeit von Orten, Personen, Gebärden, Worten und die der Musik benutzen, um der Abstraktion, die der Gedanke vornimmt, eine Hülle zu geben.«

Sein Film sei ohne Anfang und ohne Ende. Dennoch – ein Großteil von Glass’ Verwirrung mag seinem jugendlichen Alter zuzuschreiben sein. Später schrieb er dazu:

»Das Interessante an Cocteaus Film ist, dass er eine ganz spezifische Orpheus-Version schuf, die in Paris spielt. Der Film ist auch teilweise autobiographisch. Er geht über sein Leben als Künstler. […] Aber eigentlich geht es in dem Film um ihn selbst und auch um seine Beziehungen zu den anderen Künstlern. […] Vor 30 Jahren war meine Situation noch ganz anders. Ich denke, dies ist ein Projekt, das man erst in einem gewissen Alter in Angriff nehmen kann. Heute, mit 55, glaube ich, Orphée schreiben zu können, mit 30 hätte ich es sicherlich noch nicht gekonnt.«

Glass’ Faszination ging so weit, dass er nach Orphée (1993) zwei weitere Cocteau-Filme als Opernvorlage nutzte: den Märchenfilm La Belle et la Bête (1994) sowie Les Enfants terribles (1995/96). Von diesen drei Cocteau-Opern stellt Orphée die klassischste dar; die Oper La Belle et la Bête läuft parallel und komplett synchronisiert zur Filmvorführung ab, die Tanzoper Les Enfants terribles wird nur von drei Klavieren begleitet.

Als Libretto der Kammeroper Orphée in zwei Akten nutzte Glass beinahe unverändert Cocteaus französisches Drehbuch. Kleinere Anpassungen nahm er nur vor, wenn er aufgrund der eingeschränkteren Möglichkeiten der Opernbühne gegenüber dem Film dazu gezwungen war. Musikalisch schuf Glass einen repetitiven, tonalen Klangteppich der Instrumente, über dem sich die Solisten frei und harmonisch unabhängig bewegen. Aufgrund der großen Textmenge ließ er die Sänger größtenteils auf einem Ton rezitieren. Der Bariton Matthew Worth, der in einer Pittsburgher Inszenierung die Titelrolle sang, beschreibt Glass als »farb-fixiert«, speziell das Orchester betreffend:

»The term minimalism minimizes who [Glass] is as a composer. Other composers are more vocal-line-centric. Glass is color-centric, especially in the orchestral part.«

Cocteau weicht in seinem Orphée und in dem 1925 vorausgegangenen, gleichnamigen Theaterstück wesentlich vom antiken Mythos ab. Orphée ist kein Musiker, sondern Inspiration suchender Dichter; Euridice wird nicht von einer Schlange gebissen, sondern von der eifersüchtigen Todesprinzessin in die Unterwelt geführt, damit die Prinzessin Orphée ganz für sich hat; Orphée geht eigentlich nicht für Euridice in die Unterwelt, sondern mehr, um diese faszinierende Todesprinzessin wiederzusehen. Das Gericht der Unterwelt, das sich erschreckend irdisch gibt, bestimmt Orphées und Euridices Rückkehr auf die Erde – nicht ohne vorherige Liebesschwüre zwischen der Todesprinzessin und Orphée. Das berühmte Blickverbot wird ins Absurde verschärft: Es wird Orphée für immer verboten, Euridice anzusehen – eine deutliche Einschränkung des Ehelebens. Orphée wendet sich aber auch ohne die Prinzessin immer weiter von Euridice ab. Der Film lässt die verzweifelte Euridice den tödlichen Blick erzwingen, in der Oper wendet Orphée sich um, um dem Elend ein Ende zu setzen. So oder so stirbt Euridice ein zweites Mal und verschwindet. Orphée wird kurz darauf in einer Auseinandersetzung mit einer wütende Menschenmenge, den Bacchantinnen, erschossen. Eine leidenschaftliche Vereinigung mit der Prinzessin in der Unterwelt währt nur kurz, denn diese lässt ihren Diener Heurtebise Orphée zurück auf die Erde führen. Die Zeit ist zurückgedreht, das Schicksal ausgetrickst. Völlig unvermittelt sind Orphée und Euridice ohne jegliche Erinnerung an das Geschehene glücklich vereint in ihrem Schlafzimmer und freuen sich auf ihr gemeinsames Kind. Die Prinzessin und ihr Diener werden in der Unterwelt abgeführt und sehen einem ungewissen Schicksal entgegen.

Eine verwirrende Handlung, doch wie Cocteau schon über den dritten Teil seiner Orpheus-Trilogie (aus Le Sang d’un poète, Orphée und Le Testament d’Orphée) sagte: Es ist »ein Film für Unschuldige, die nicht vom Laster des Begreifens um jeden Preis befallen sind…« Cocteaus und damit auch Glass’ Orphée ist egoistisch, verwöhnt, sprunghaft, ungeduldig und alles andere als ein Held. Orphée ist ein imperfekter Mensch mit wenig Disziplin und schlechtem Urteilsvermögen. Das alte Verbot des Umschauens wird symbolisch weitergedeutet im Sinne von nicht versteifen auf Ruhm, Ehre und Karriere und darüber das heimische Glück vergessen. Die Trennlinie zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Leben und Tod, wird aufgehoben: »Der Tod eines Dichters muss sich opfern, um ihn unsterblich zu machen«, sagt die Prinzessin. Laut Cocteau muss ein Dichter viele Arten von »Tod« erleiden, um durch seine Kunst unsterblich zu werden.

Ein musikalisches Zitat, das schon Cocteau und sein Komponist Georges Auric verwendeten, nimmt auch Glass auf. Cocteau setzt an zahlreichen Stellen im Film die Flötenmelodie des »Reigens seliger Geister« aus Christoph Willibald Glucks Orfeo ed Euridice ein. Sie taucht sowohl in Szenen mit der Prinzessin als auch in Szenen mit Euridice auf. Glass verwendet in einem Zwischenspiel, in dem die Todesprinzessin in Orphées Zimmer kommt, um ihn beim Schlafen zu beobachten, ein Thema, das deutlich an Glucks Melodie erinnert und die gleichen charakteristischen Verzierungen enthält. In der bekannten Klaviersuite, die Peter Barnes im Jahr 2000 aus der Oper geschaffen hat, heißt diese Szene Orphée’s Bedroom.

Glass’ Oper, die Cocteaus Libretto von 1949 mit der ›minimalistischen‹ Klangsprache des amerikanischen Komponisten verbindet, wurde von Kritik und Publikum unterschiedlich aufgenommen. Von »beguiling, delicate« (Andrew Clements in Opera am 1. August 2005), »comes close to the perfect marriage of music and drama« (Jon L. Lehman in Patriot Ledger am 1. Januar 2001) bis hin zu »Dudeldu-Ostinato« (Manuel Brug in der Süddeutschen Zeitung vom 6. August 1993) und »such a bore« (Peter G. Davis in New York Magazine vom 7. Juni 1993) waren in der Presse nahezu alle Meinungen vertreten. In jedem Fall zieht Glass mit seiner Verbindung von populärer Musik und klassischen Genres ein jüngeres Publikum an. Orphée taucht bis heute hier und da auf einem Spielplan auf, in Deutschland zuletzt in München 2012.

Die Beschäftigung mit dem Orpheus-Mythos bleibt eine Faszination für Komponisten aller Generationen – jüngst vertonte ihn Anaïs Mitchell 2010 mit Hadestown. Glass wurde mitunter vorgeworfen, sich gleich an zwei unsterblichen Klassikern ›vergangen‹ zu haben: dem Orpheus-Mythos und dem legendären Cocteau-Film. Und doch treffen sich die beiden Künstler in ihrem Wunsch, durch Verwirrung und Abstraktion das Wesentliche sichtbar zu machen. Unter den vielen offenen Fragen bleibt insbesondere die nach dem Schluss. Kann man Orphées ›Rückführung‹ als Happy End bezeichnen? Ist er nicht lediglich im Unwissen glücklich mit Euridice? Oder nur, weil er durch die Aufopferung des Todes bereits dichterische Unsterblichkeit erlangt hat? Eines steht fest: Cocteaus Wunsch nach Rätseln, die dem Publikum bleiben sollen, wird erfüllt.

 

Literatur

Christian Baier, Poesie des Verlierens. Zum Orpheus-Komplex, in: Neue Zeitschrift für Musik 2003, Nr. 5, S. 14–19.

Mauro Fosco Bertola, Oper und Film als Anamorphose. Orphée zwischen Jean Cocteau und Philip Glass, in: Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung, September 2014.

Peter G. Davis, Orpheus Dissenting, in: New York Magazine, 7. Juni 1993, S. 57.

Philip Glass, Orphée.

Reinhard Oehlschlägel, Wandlungen der Avantgarde. Amerikanische Ansätze, in: Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert, Bd. 4, 1975–2000, hrsg. von Helga de la Motte-Haber, Laaber 2000, S. 31f.

Philip Glass. Orphée – The Making of an Opera, hrsg. von Karen Kopp u. a., Düsseldorf 1993.

Volker Straebel, Philip Glass, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, hrsg. von Ludwig Finscher, Personenteil, Bd. 7, Kassel u. a. 2002, Sp. 1052–1057.

Edward Strickland, Glass, Philip, in: Grove Music Online. Oxford Music Online, Oxford University Press.

Study Guide Season 2011/2012. Orphée by Philip Glass, hrsg. von der Virginia Opera.

Anthony Tommasini, Nipping down to hell with Philip Glass, in: The New York Times, 29. Juli 2010.

 

Georg Philipp Telemann: Die wunderbare Beständigkeit der Liebe, oder Orpheus

Yvonne Rohling

Georg Philipp Telemann: Die wunderbare Beständigkeit der Liebe, oder ORPHEUS (1726) – ein Orpheus-Suchbild

Als Georg Philipp Telemann am Beginn des 18. Jahrhunderts auf der Bildfläche der Opernkomponisten erschien, war von einer ›deutschen Oper‹ noch kaum zu sprechen. Die politische Zerrissenheit des deutschsprachigen Raums nach dem 30-jährigen Krieg stand auch in der Musik einem Nationalgedanken entgegen. Anders war das in Italien oder Frankreich: Hier kann schon früh von spezifischen musiktheatralen Gattungen wie der Opera seria, der Tragédie lyrique oder dem Ballett gesprochen werden. Insbesondere die Opera seria war auch an den deutschen Höfen willkommen; nach einem ›eigenen‹ Stil bestand gar keine Notwenigkeit oder Nachfrage. Wenn sich dennoch jemand an einem kleinen Hof der ›deutschen Oper‹ zuwandte, dann meist aus dem Grund, dass die finanziellen Mittel nicht ausreichten um sich anderes leisten zu können. Inhaltlich beherrschten dabei generell (noch) die antiken Mythen das Geschehen: Adonis, Herkules und natürlich Orpheus waren beliebte Sujets der Libretti.

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Dass sich auch Telemann dieser Vielfalt bediente, zeigt zunächst die Wahl der Libretto-Vorlage: Er orientierte sich inhaltlich an der Tragédie Orphée von Michel Du Boullay (Libretto) und Louis Lully (Komponist). Der Bezug auf das Italienische und Französische in der Musik lässt sich hingegen an einem weiteren Faktor erkennen: Telemann komponierte in unterschiedlichen Stilen und Sprachen. Die Da-capo-Arie in italienischer Sprache als unantastbares Vorbild fügte er in ein sonst überwiegend deutschsprachiges Libretto ein. Auch fanden Tanz- und Instrumentalsätze nach französischen Vorbildern Einzug in die Oper. Insgesamt schrieb Telemann so neun Arien in italienischer Sprache bzw. mit italienischem Vorbild und sieben Arien im französischen Stil bzw. in französischer Sprache. Der Großteil der Oper ist jedoch in Deutsch verfasst, so dass sie zu den ersten Werken gehört, in denen Deutsch als Kunstsprache verwendet wurde.

Bereits der Beginn vereint die verschiedenen Stile: Nachdem die Einleitung am Vorbild der französischen Ouvertüre angelehnt ist, schließt sich eine Da-capo-Arie in deutscher Sprache an, gesungen von einem Hauptcharakter der Oper. Die Rede ist allerdings nicht von Orpheus: Vielmehr wird die Oper von der verwitweten thrakischen Königin Orasia eröffnet, die letztlich zum Motor der Handlung wird und in ihrer dramaturgischen Funktion an die Stelle des Schicksals tritt. Orasia wird aus Eifersucht zur Mörderin an Euridice und aus verschmähter Liebe zur Rächerin an Orpheus.

Durch die Nennung von Orpheus im Titel der Oper kommt der Rezipient jedoch nicht umhin, eine Erwartungshaltung zu entwickeln: Dem antiken Mythos folgend, stehen laut dem Titel Orpheus als Mensch und sein Leid, wenn er seine geliebte Euridice (sogar zweimal) verliert, im Mittelpunkt. Doch letztlich wagt Telemann einen Kunstgriff, der den Aspekt der Liebe auf eine andere Weise ins Zentrum rückt – auch aus diesem Grund nimmt das Werk eine Sonderstellung unter den Vertonungen des Orpheus-Stoffes ein: Die zentrale Figur ist nicht Orpheus, sondern Orasia. Anstatt den antiken Orpheus-Mythos zu wiederholen, wird ein neuer Weg eingeschlagen; durch die Konstruktion dieser Schlüsselrolle bekommt das Libretto eine andere Dimension.

Zwar werden die Grundzüge des Orpheus-Stoffes aufgegriffen – der Handlungsort Thrakien, Euridices Schlangenbiss, dass Orpheus nach seinem Scheitern zum Frauenfeind wird oder auch, dass er von den Mänaden zerrissen wird –, jedoch werden sie in einem anderen Kontext (um)gedeutet. Orasias Liebe zu Orpheus und ihre Eifersucht sind Ursprung und Ursache der Handlung. Seine Heirat mit Euridice ist ihr ein Dorn im Auge. So wird sie zur Initiatorin des Schlangenbisses, um Euridice aus dem Weg zu räumen und Orpheus für sich gewinnen zu können. Das zentrale Element der Handlung bleibt hingegen unangetastet: Orpheus steigt in die Unterwelt hinab und überzeugt Pluto, Euridice aus dem Hades gehen zu lassen. Doch auf dem Rückweg dreht er sich um und verliebt sich ein zweites Mal in Euridice, muss sie daraufhin jedoch zurücklassen. Allerdings erfährt Orpheus in der Unterwelt auch, wer hinter dem Schlangenbiss und Euridices Tod steckt.

Orasia sieht sich zu dieser Zeit am Ziel: Sie wartet am Eingang zur Unterwelt und ist bereit, Euridice ein zweites Mal zu töten. Es kommt aber, wie es kommen muss: Orpheus und Orasia treffen aufeinander, er weist sie im Wissen um ihre Tat erneut zurück. Aufgrund dieser Abweisung wandelt sich Orasias Liebe in Hass: Sie lässt Orpheus von den Bacchantinnen töten. Doch allzu schnell bereut sie ihre Tat und folgt Orpheus durch Selbstmord ins Reich der Toten. Dort wird ihr Kampf um Orpheus wahrscheinlich weitergehen: Ein glückliches Ende bleibt aus.

Letztlich offenbart sich ein Spiel der Gefühle und um die Liebe. Auffällig ist, dass von Beginn an eine Dreiecksbeziehung konstruiert ist, deren Intrigen- und Verwechslungsspiel durchaus auch an einen Buffa-Stoff erinnert. Doch Orasia ist die zentrale Figur. Vielleicht gibt Telemann diesen Hinweis schon im Titel mit der Nennung der »Beständigkeit der Liebe« bis in den Tod und darüber hinaus. Zehn Jahre nach der Hamburger Uraufführung benannte er die Oper jedoch zu Die Rachbegierige Liebe, oder ORASIA, Verwittwete Königin in Thracien um. Orpheus ist nun gänzlich aus dem Titel verschwunden; Telemann macht endgültig deutlich, wen er als Hauptcharakter erachtet hat. Das unterstreicht, dass in Telemanns Oper der antike Orpheus-Mythos lediglich die Grundlage einer weitergesponnenen Geschichte um Liebe und Eifersucht bildet.

 

Literatur

Peter Huth, Orpheus: Eine neue Lesart des Orpheus-Mythos, Booklet zur CD-Einspielung Orpheus (Akademie für Alte Musik, Rias-Kammerchor, René Jacobs), Harmonia mundi France, 1998.

Ders., Telemanns Orpheus – Ein Singe-Spiel? Booklet zur DVD-Aufnahme von Die wunderbare Beständigkeit der Liebe oder Orpheus, Oper in drei Akten von Georg Philipp Telemann, Zentrum für Telemann-Pflege und Forschung, Magdeburg 2010.

Richard Petzoldt, Georg Philipp Telemann. Leben und Werk, Leipzig: Deutscher Verlag für Musik 1967.

Siegbert Rampe, Georg Philipp Telemann und seine Zeit, Laaber: Laaber 2017.

Igor Stravinskij: Orpheus

Franziska Schumacher 

Igor Stravinskij: Orpheus (1948)

Stravinskijs etwa 30-minütige Orpheus-Ballettmusik nach Ovids Metamorphosen entstand in den Jahren 1947/48 und wurde 1948 in New York uraufgeführt. Als Charaktere treten Orpheus, Euridice, die Furien, die Bacchantinnen, Hades und Apollo auf. Anstatt Amor (wie beispielsweise bei Gluck) erscheint in Stravinskijs Fassung ein »Todesengel«.

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Die Vorgeschichte um Euridices Tod wird ausgelassen; wie bei Gluck beginnt das Ballett mit ihrem Begräbnis, einem Lento sostenuto mit Orpheus’ Klage über Euridices Tod. Anmerkungen in der Partitur beschreiben die Szenerie:

»Orpheus steht reglos mit dem Rücken zum Publikum da. Freunde schreiten an ihm vorüber und grüßen voller Mitleid.«

Begleitet von der Harfe, wird der Klagegesang in Abwärtsbewegungen einer phrygischen Skala ausgedrückt. Die Spielweise »près de la table« resultiert in einem ›trockenen‹ Klang, mit dem Stravinskij an den Klang der Kithara anspielte. Der Todesengel, dessen Auftritt von dramatischen Holz- und Blechbläsern begleitet wird, führt Orpheus in die Unterwelt.[1] Dort treten die Furien ihnen mit aufgeregten Drohgebärden entgegen. Orpheus ›kontert‹ in der Air de danse, dem Herzstück des Balletts. Es gelingt ihm, die Bewohner der Unterwelt durch die Macht der Musik zu besänftigen. In der Partitur sind für dieses Stück zwar keine Handlungsanweisungen, dafür aber musikalische Hinweise notiert – quasi rezitativisch sollen Harfe und Streicher den Gesang des Orpheus abbilden. Der ›barocke‹ Gestus wird noch greifbarer, wenn ab Takt 80 die Oboen zu einem Zwiegesang ansetzen. Hier liegt ein Vergleich mit der Arie Zerfließe, mein Herze aus Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion nahe. Beide Stücke stehen in der Tonart f-Moll, die der Tonartensymbolik aus Johann Matthesons Neu-eröffnetem Orchestre zufolge tiefe Trauer auszudrücken vermag. Die duettierenden Oboen, die Stravinskij als ›obligate Instrumente‹ von der Harfe begleiten lässt, sind bei Bach ebenso vorgegeben. Auch motivisch zitiert Stravinskij aus dieser Arie. Zugleich lässt sich aber beobachten, wie er mit dem Bekannten bricht: Während die Melodie ähnlich dem barocken Vorbild erklingt, spielt die Harfe dazu ›falsche‹ Akkorde; wenn zum Beispiel im zweiten Takt eigentlich die Dominante (C-Dur) erklingen sollte, hört man immer wieder ›Störtöne‹.

Warum stellte Stravinskij diese Verbindung zu einer Passionsvertonung her? Der Orpheus-Mythos wurde seit der Spätantike auch christlich interpretiert. Schon im frühen Christentum gab es Vergleiche zwischen König David und Orpheus: Beiden wurde zugeschrieben, durch die Macht der Musik große Dinge bewirkt zu haben, beide werden mit dem gleichen Instrument porträtiert. Thomas von Aquin und Augustinus stellten auch Verbindungen zu Christus her: Wie Orpheus besiegte er durch seinen Gang in die Unterwelt den Tod und stieg aus Liebe ins Totenreich hinab – »aus Liebe will mein Heiland sterben«, heißt es etwa in Bachs Matthäus-Passion.

Im achten Bild von Stravinskijs Ballett ist nun auch Hades tief bewegt durch Orpheus’ Musik. Die Furien eilen herbei, verbinden dem Sänger die Augen und führen Euridice zu ihm. Nun kann man im neunten Bild einen Pas de deux verfolgen; der Paartanz ist musikalisch durch kontrapunktische Stimmführungen abgebildet. Nachdem sich die Musik zu einem hoffnungsvollen C-Dur aufschwingt, nimmt Orpheus seine Augenbinde ab, worauf der ›Gesang‹ abrupt abbricht und Euridice (während einer Generalpause, seit jeher einem Todessymbol der musikalischen Rhetorik) ein zweites Mal stirbt. Diese weitere Abweichung von der Stoffvorlage mag durch die Choreographie begründet sein: Euridices erneuter Tod wird nicht dadurch hervorgerufen, dass Orpheus sich zu ihr umdreht, sondern durch das Abnehmen der Augenbinde.

Im weiteren Verlauf zeigt Stravinskij den Tod des Orpheus (Pas d’action): Er wird von den Bacchantinnen oder Mänaden in Stücke zerrissen, da er nach Euridices Tod den Frauen gänzlich entsagen wollte. Doch ist damit das Ende noch nicht erreicht: In einem Epilog erscheint Apoll und nimmt die Lyra aus den Händen des Toten. Ihr Lied wird zum Himmel erhoben, was symbolisch Orpheus’ Apotheose darstellt. Stravinskij selbst beschrieb in einem Gespräch die musikalische Umsetzung des Epilogs folgendermaßen:

»›Sehen Sie die Fuge hier‹, sagte er beispielsweise und zeigte auf den Beginn des Epilogs. ›Die beiden Hörner führen sie durch, während Trompete und Violine eine langgezogene Melodie, eine Art cantus firmus vortragen. Klingt das nicht wie eine mittelalterliche Vielle?‹ […] Hier, sehen Sie, zerschnitt ich die Fuge wie mit einer Schere. Dann fahren die Hörner mit ihrer Fuge fort, als sei nichts passiert. […] Sie können diese Harfensolo-Einschübe weglassen, die Teile der Fuge zusammenfügen und werden ein vollständiges Stück haben.«[2]

Diese Harfensoli sind Rückgriffe auf die Air de danse des Orpheus. Indem sie auch nach mehrmaliger Unterbrechung immer wieder ansetzen, erhalten sie eine unaufhaltsame Wirkung: Orpheus ist zwar tot, doch geht die Musik weiter, als ob sie nicht enden wollte. Die phrygische Abwärtsbewegung des Beginns wieder zwar aufgegriffen, schon nach wenigen Takten aber zu einer dorischen Aufwärtsbewegung umgewandelt: Die Musik steigt zum Himmel und wird vergöttlicht.

Eine Vertonung des Orpheus-Mythos durch Igor Stravinskij mag eine ›moderne‹ Inszenierung erwarten lassen. Die Uraufführung war jedoch weitgehend ›klassisch‹ inszeniert und ins Mythische abstrahiert. Die Rezension von John Martin in der New York Times fiel positiv aus; auch der Bühnen- und Kostümbildner wird gelobt:

»It is an extraordinarily beautiful work, realized in a rare theatrical synthesis. […] Though his costumes are less successful than his spare and sculptural décor, he has managed to clothe the figures in just the kind of impersonality they should have. […] Once again his feeling for materials has served him well, and he has provided a sheer white silk drop curtain that is both visually and dramatically wonderful.«

Allerdings blieb Stravinskijs Orpheus weithin unbekannt. Auch dazu äußerte schon die New York Times eine Vermutung, dass nämlich das Stück zweifellos nichts für jeden sei, aber trotzdem ein bemerkenswertes Werk, reich an Schönheit für diejenigen, die sie finden könnten.[3]

 

 

Literatur

Artikel in The New York Times vom 29. April 1948 (John Martin, Stravinsky Work in World Premiere), 16. Mai 1948 (ders., The Dance: “Orpheus”) und 17. Januar 1949 (ders., City Unit Features ‘Orpheus’ Ballet).

Wolfgang Burde, Strawinsky. Leben, Werke, Dokumente, Erweiterte Neuausgabe, Mainz u. a.: Schott 1982.

 

Anmerkungen

[1] In diesem kurzen Zwischenspiel verwendet Stravinskij eine Tonfolge aus zehn Tönen (bcisecbgascab) über einem b-Moll-Dreiklang.

[2] Wolfgang Burde, Strawinsky, S. ##.

[3] John Martin, Stravinsky Work in World Premiere, in: The New York Times, 29. April 1948.