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Igor Stravinskij: Orpheus

Franziska Schumacher 

Igor Stravinskij: Orpheus (1948)

Stravinskijs etwa 30-minütige Orpheus-Ballettmusik nach Ovids Metamorphosen entstand in den Jahren 1947/48 und wurde 1948 in New York uraufgeführt. Als Charaktere treten Orpheus, Euridice, die Furien, die Bacchantinnen, Hades und Apollo auf. Anstatt Amor (wie beispielsweise bei Gluck) erscheint in Stravinskijs Fassung ein »Todesengel«.

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Die Vorgeschichte um Euridices Tod wird ausgelassen; wie bei Gluck beginnt das Ballett mit ihrem Begräbnis, einem Lento sostenuto mit Orpheus’ Klage über Euridices Tod. Anmerkungen in der Partitur beschreiben die Szenerie:

»Orpheus steht reglos mit dem Rücken zum Publikum da. Freunde schreiten an ihm vorüber und grüßen voller Mitleid.«

Begleitet von der Harfe, wird der Klagegesang in Abwärtsbewegungen einer phrygischen Skala ausgedrückt. Die Spielweise »près de la table« resultiert in einem ›trockenen‹ Klang, mit dem Stravinskij an den Klang der Kithara anspielte. Der Todesengel, dessen Auftritt von dramatischen Holz- und Blechbläsern begleitet wird, führt Orpheus in die Unterwelt.[1] Dort treten die Furien ihnen mit aufgeregten Drohgebärden entgegen. Orpheus ›kontert‹ in der Air de danse, dem Herzstück des Balletts. Es gelingt ihm, die Bewohner der Unterwelt durch die Macht der Musik zu besänftigen. In der Partitur sind für dieses Stück zwar keine Handlungsanweisungen, dafür aber musikalische Hinweise notiert – quasi rezitativisch sollen Harfe und Streicher den Gesang des Orpheus abbilden. Der ›barocke‹ Gestus wird noch greifbarer, wenn ab Takt 80 die Oboen zu einem Zwiegesang ansetzen. Hier liegt ein Vergleich mit der Arie Zerfließe, mein Herze aus Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion nahe. Beide Stücke stehen in der Tonart f-Moll, die der Tonartensymbolik aus Johann Matthesons Neu-eröffnetem Orchestre zufolge tiefe Trauer auszudrücken vermag. Die duettierenden Oboen, die Stravinskij als ›obligate Instrumente‹ von der Harfe begleiten lässt, sind bei Bach ebenso vorgegeben. Auch motivisch zitiert Stravinskij aus dieser Arie. Zugleich lässt sich aber beobachten, wie er mit dem Bekannten bricht: Während die Melodie ähnlich dem barocken Vorbild erklingt, spielt die Harfe dazu ›falsche‹ Akkorde; wenn zum Beispiel im zweiten Takt eigentlich die Dominante (C-Dur) erklingen sollte, hört man immer wieder ›Störtöne‹.

Warum stellte Stravinskij diese Verbindung zu einer Passionsvertonung her? Der Orpheus-Mythos wurde seit der Spätantike auch christlich interpretiert. Schon im frühen Christentum gab es Vergleiche zwischen König David und Orpheus: Beiden wurde zugeschrieben, durch die Macht der Musik große Dinge bewirkt zu haben, beide werden mit dem gleichen Instrument porträtiert. Thomas von Aquin und Augustinus stellten auch Verbindungen zu Christus her: Wie Orpheus besiegte er durch seinen Gang in die Unterwelt den Tod und stieg aus Liebe ins Totenreich hinab – »aus Liebe will mein Heiland sterben«, heißt es etwa in Bachs Matthäus-Passion.

Im achten Bild von Stravinskijs Ballett ist nun auch Hades tief bewegt durch Orpheus’ Musik. Die Furien eilen herbei, verbinden dem Sänger die Augen und führen Euridice zu ihm. Nun kann man im neunten Bild einen Pas de deux verfolgen; der Paartanz ist musikalisch durch kontrapunktische Stimmführungen abgebildet. Nachdem sich die Musik zu einem hoffnungsvollen C-Dur aufschwingt, nimmt Orpheus seine Augenbinde ab, worauf der ›Gesang‹ abrupt abbricht und Euridice (während einer Generalpause, seit jeher einem Todessymbol der musikalischen Rhetorik) ein zweites Mal stirbt. Diese weitere Abweichung von der Stoffvorlage mag durch die Choreographie begründet sein: Euridices erneuter Tod wird nicht dadurch hervorgerufen, dass Orpheus sich zu ihr umdreht, sondern durch das Abnehmen der Augenbinde.

Im weiteren Verlauf zeigt Stravinskij den Tod des Orpheus (Pas d’action): Er wird von den Bacchantinnen oder Mänaden in Stücke zerrissen, da er nach Euridices Tod den Frauen gänzlich entsagen wollte. Doch ist damit das Ende noch nicht erreicht: In einem Epilog erscheint Apoll und nimmt die Lyra aus den Händen des Toten. Ihr Lied wird zum Himmel erhoben, was symbolisch Orpheus’ Apotheose darstellt. Stravinskij selbst beschrieb in einem Gespräch die musikalische Umsetzung des Epilogs folgendermaßen:

»›Sehen Sie die Fuge hier‹, sagte er beispielsweise und zeigte auf den Beginn des Epilogs. ›Die beiden Hörner führen sie durch, während Trompete und Violine eine langgezogene Melodie, eine Art cantus firmus vortragen. Klingt das nicht wie eine mittelalterliche Vielle?‹ […] Hier, sehen Sie, zerschnitt ich die Fuge wie mit einer Schere. Dann fahren die Hörner mit ihrer Fuge fort, als sei nichts passiert. […] Sie können diese Harfensolo-Einschübe weglassen, die Teile der Fuge zusammenfügen und werden ein vollständiges Stück haben.«[2]

Diese Harfensoli sind Rückgriffe auf die Air de danse des Orpheus. Indem sie auch nach mehrmaliger Unterbrechung immer wieder ansetzen, erhalten sie eine unaufhaltsame Wirkung: Orpheus ist zwar tot, doch geht die Musik weiter, als ob sie nicht enden wollte. Die phrygische Abwärtsbewegung des Beginns wieder zwar aufgegriffen, schon nach wenigen Takten aber zu einer dorischen Aufwärtsbewegung umgewandelt: Die Musik steigt zum Himmel und wird vergöttlicht.

Eine Vertonung des Orpheus-Mythos durch Igor Stravinskij mag eine ›moderne‹ Inszenierung erwarten lassen. Die Uraufführung war jedoch weitgehend ›klassisch‹ inszeniert und ins Mythische abstrahiert. Die Rezension von John Martin in der New York Times fiel positiv aus; auch der Bühnen- und Kostümbildner wird gelobt:

»It is an extraordinarily beautiful work, realized in a rare theatrical synthesis. […] Though his costumes are less successful than his spare and sculptural décor, he has managed to clothe the figures in just the kind of impersonality they should have. […] Once again his feeling for materials has served him well, and he has provided a sheer white silk drop curtain that is both visually and dramatically wonderful.«

Allerdings blieb Stravinskijs Orpheus weithin unbekannt. Auch dazu äußerte schon die New York Times eine Vermutung, dass nämlich das Stück zweifellos nichts für jeden sei, aber trotzdem ein bemerkenswertes Werk, reich an Schönheit für diejenigen, die sie finden könnten.[3]

 

 

Literatur

Artikel in The New York Times vom 29. April 1948 (John Martin, Stravinsky Work in World Premiere), 16. Mai 1948 (ders., The Dance: “Orpheus”) und 17. Januar 1949 (ders., City Unit Features ‘Orpheus’ Ballet).

Wolfgang Burde, Strawinsky. Leben, Werke, Dokumente, Erweiterte Neuausgabe, Mainz u. a.: Schott 1982.

 

Anmerkungen

[1] In diesem kurzen Zwischenspiel verwendet Stravinskij eine Tonfolge aus zehn Tönen (bcisecbgascab) über einem b-Moll-Dreiklang.

[2] Wolfgang Burde, Strawinsky, S. ##.

[3] John Martin, Stravinsky Work in World Premiere, in: The New York Times, 29. April 1948.


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