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»Durch welche formellen Mittel ist Wurscht.« Alexander Ritter, Ludwig Thuille und das Leitmotiv

Am 1. August 1893 diskutierte Alexander Ritter in einem Brief an Ludwig Thuille die Anwendung von Leitmotiven (D-Mbs, Nl. Alexander Ritter, ANA 493). Ritter, selbst Komponist, bezog sich dabei auf sein Libretto für die Oper »Theuerdank«, die im Jahre 1897 in Thuilles Vertonung in München auf die Bühne kommen sollte. In der Debatte um Leitmotivik der 1890er Jahre ist dies eine von mehreren Quellen, die eine Flexibilisierung über Personenmotive hinaus (von Ritter abschätzig als »Paßkarten« bezeichnet) fordert.

Was Sie mir ^über^ die zwei Leitmotive für den Max schreiben, gefällt mir sehr wohl, und ich würde ihm deren noch mehr anhängen. Ich bin nämlich kein Freund der rein persönlichen Leitmotive, und ich glaube daß diese nur im Lohengrin (aus ganz gewißen Gründen) ihre Berechtigung haben. Schon im Tristan entnimmt Wagner die Leitmotive den verschiedenen Empfindungen der handelnden Person, so daß diese durchaus nicht mehr bei jedem Wiederauftritt ihre bestimmte Paßkarte vorzeigt. – Haben Sie nun diese ersten zwei Leitmotive, wie mir scheint, sehr richtig und schön gewählt, so werden Sie im weitern Verlaufe gewiß künstlerisch veranlaßt werden, dem Max noch mehr derlei anzuhängen, u. werden dadurch die Gefühls-verständlich-machung (nanu!!) dieser Figur sehr erhöhen u. verschönern.

Zum Beispiel:

Im Max treten zwei sehr gegensätzliche Characterzüge oder Empfindungsarten scharf hervor: er ist, wohl durch die empfangene höfische Erziehung, etwas oberflächlich und frivol. Diesem Zuge gegenüber, steht ein eminent idealer hoher immer aufwärts strebender Sinn. Er hat die Schönheit der Französinnen, Italienerinnen und Spanierinnen weidlich gekostet, dennoch geht ihm die ideale Schönheit der deutschen Frau über Alles. Dieser ideelle hohe Sinn überwindet im entscheidenden Moment immer seine Frivolität und macht sie unschädlich.

Giebt das vielleicht wieder zwei Motive? –

Oder: Da dieser hohe ideale Sinn jedenfalls wohl der Schöpfer seiner späteren Her[r]schertugenden ist, reicht hier vielleicht schon eine Aehnlichkeit mit Ihrem Krönungsmotiv?

Ja Liebster! darauf kann Ihnen immer Einer antworten, Ihr eigener künstlerischer Instinct. Und mich bewahre Gott davor, daß ich Ihnen gegenüber in den Fehler des »großen« Guntram verfalle und dozire!

Nur um Eines bitte ich Sie inständigst: thuen Sie alle etwaige Componisten-Eitelkeit beiseite! Folgen Sie nur, ausschließlich dem inneren Drang: das was Sie dichterisch be[z]wingt u. erfüllt, zu deutlichem Ausdruck zu bringen. Durch welche formellen Mittel ist Wurscht. Dann werden die herrlichsten musicalischen Formen auf dem Papiere stehn, die nun aber auch wirklich Ihnen ureigen sind.

[Transkription: Christoph Hust]

»Ein umfassender Feldzugsplan ist in meinem Kopfe fertig«: Joachim Raff coacht Peter Cornelius

Vom 8. Oktober 1868 datiert der folgende Brief des Komponisten und späteren Direktors des Frankfurter Konservatoriums Joachim Raff an seinen Kollegen Peter Cornelius (D-Mbs Raffiana II). Was Raff hier über die wirtschaftlichen Hintergründe der Musik, insbesondere des Musiktheaters, und die strategische Planung einer Komponistenkarriere »im Schatten Wagners« schreibt, ist faszinierend zu lesen – und erstaunlich unverblümt geschrieben!

Lieber Cornelius!

Deinen Brief vom 28. August d. J. [1868] zu beantworten ist mir erst heute möglich, da ich wieder einigermaßen korrespondenzfähig geworden bin. Erwarte indeß auch heute keinen langen Brief von mir, denn es geht mir mit der Zeit sehr knapp.

Die zwei ersten Seiten Deines Briefes seien ganz und gar übergangen, weil sie Dinge berühren, über die wir verschieden denken, und ich beginne gleich bei pag. 3, welche vom »Cid« handelt. Seit Bülows Abreise habe ich Dein Werk sehr aufmerksam durchgenommen, und mir also eine beiläufige Meinung darüber gebildet. Dasselbe hat mir in mancher Beziehung eine große und aufrichtige Freude bereitet. Allein anderseits kann und darf ich dies auch nicht vergessen, daß Du – wofern Du Dich nicht auf ein fruchtloses Märtyrium capricierst – Verschiedenes an Diesem Werke und an Deiner ganzen Schreibart für’s Theater wirst ändern müssen. Du wirst mir dies um soweniger übel nehmen, als Du weißt, daß ich in Sachen der Kunst immer ziemlich praktisch gewesen bin, und als es sich – bei Lichte besehen – um Dein Sein oder Nichtsein in der größeren Oeffentlichkeit handelt.

Zwei Dinge, von denen die öffentliche Existenz eines Componisten bedingt ist, scheinen Dir im Ganzen noch nicht recht zum Bewußtsein gelangt zu sein:

A., das individuelle künstlerische Verhältniß zum Publicum,

B., der praktische Betrieb der Production.

Zu A. muß ich bemerken, daß Dein »Cid« stark nach Wagner’s »Lohengrin« und selbst »Tristan« ausschaut, und daß der Unterschied zwischen Dir und Wagner ein mehr innerlicher als äußerlicher, dem Publicum in die Augen fallender ist. Es kann nicht meine Sache sein, Dir in extenso zu deduziren, was hieraus in der Oeffentlichkeit nothwendig für Dich resultiren muß. Fändest Du es nicht durch eigenes Nachdenken, so zeugte dies von einem Mangel an Objectivität, gegen den ich vergeblich anzugehen versuchte. Nur das Wichtigste will ich andeuten.

Nicht nur in Bezug auf subjective Originalität verlierst Du im Vergleich mit Wagner, sondern auch in Bezug auf die objective Wirkung, trotzdem, daß Du in formeller Beziehung Anstrengungen gemacht hast, um Dich von Deinem Vorbilde zu emancipiren, resp. über selbiges hinauszukommen, welche man nur loben kann. Du wist außerdem nach Deinem »Cid« im Ganzen und Großen als ein Nachahmer Wagners angesehen werden, der weder die Präcedenzien, noch die Verdienste seines Vorbildes für sich hat, und daher selbstverständlich nur unter den Unzukömmlichkeiten zu leiden habe, mit welchen die Gegner der Wagnerschen Richtung den Urheber derselben in reichem Maße zu bedenken nicht aufhören, ohne den Ruhm des Neuerers, welcher selbst in einer Zweideutigkeit immer noch ein Ruhm bleibt, an Deinen Namen zu fesseln.

Dieses wolltest Du weniger hinsichtlich der Vergangenheit bedenken, als vielmehr in Bezug auf die Gegenwart, da Du ja doch bereits wieder mit einem neuen Werke beschäftigt bist.

Zu B. muß ich ausführlicher sein. Die Aufführung eines Werkes en famille – viel besser ist eine solche in Weimar nicht – constituirt weder Erfolg noch Existenz einer Partitur. Damit diese letztere kein Phantom sei, muß ein Werk im Klavierauszug und Partitur gedruckt werden. Besprechungen des so auf den Musikalienmarkt gebrachten Werkes sind wünschenswerth, aber nicht unumgänglich nothwendig. Dagegen ist die durch den Druck der Partitur ermöglichte Aufführung an verschiedenen Bühnen zugleich nach Kräften anzustreben.

Ein Klavierauszug von ca 200 Seiten, wie der des »Cid« sein würde, verursacht etwa 4–500 Thaler Herstellungskosten. Die Autographie der Partitur, welche meines Wissens nur in Leipzig oder in Cöln anständig hergestellt werden kann, kostet bei einer Auflage von 100 Exemplaren 300 Thaler. Da Du Dich im Musikhandel bis jetzt nur schwer betheiligt hast, so wirst Du schwerlich einen Verleger finden, der für Alles aufkömmt, resp. Dir die Oper in Bausch und Bogen abnimmt. Es entsteht nun folgende Frage:

  • Hast Du das bestimmte Vertrauen, daß der »Cid« sich für die Bühne und den Verlag rentiren werde, und »willst Du«, daß Einfluß und Geld, welche für die Flüssigmachung eines solchen Werkes unerläßlich sind, dieser Oper zugewendet werden sollen?

Wenn Du diese Frage mit »Ja« beantwortest, so kömmt es selbstverständlich an Deine Freunde, resp. an mich, dem Du Dein Vertrauen zuwendest, Dir an die Hand zu gehen, damit Dir Alles möglichst erleichtert werde, und in diesem Falle hast Du mein Wort, daß Dir mein voller Beistand erstehen und verbleiben soll. Ein umfassender Feldzugsplan ist in meinem Kopfe fertig, und ich werden denselben von A–Z realisiren, so, daß deine persönliche Cooperation auf etwa 6–7 Wochen Arbeit und zwei kleine, keineswegs kostspielige Reisen beschränkt bleiben soll, exclusive der Druckcorrecturen natürlich, von denen kein Autor entbunden werden kann.

Wenn sodann Deine Wünsche gründlich erfüllt sein werden, soll es mich freuen; aber aufs Bestimmteste muß ich von Vornherein jede Art von Erkenntlichkeit ablehnen, da ich mit dem was ich thue, nur der Rücksicht genügen will, welche man Deinem künftigem Streben, und so vielem Gelungenen und Bedeutenden, was sich in Deinem Werke vorfindet, schuldig ist.

Es ist nicht unwahrscheinlich, daß ich der nächsten Aufführung der »Meistersinger« in München beiwohne. Du hast also nicht nöthig, mir vor dem 18. d.M. wieder zu antworten. Dies letztere wird aber am Platze sein, wenn ich zu der bevorstehenden Aufführung nicht bei Euch gewesen sein sollte.

Inzwischen also leb’ wohl! Reime Alles, was ich Dir gesagt, als die unumwundene aber wohlmeinende Ansicht eines älteren vielgeprüften Mannes auf, der seine Illusionen in Weimar zurückgelassen hat, und gewohnt ist, mit der realen Wirklichkeit zu rechnen, dem es aber aufrichtig darum zu thun ist, Dich vorwärts zu bringen.

Mit bestem Gruße

Dein J Raff

Wiesbaden 8. October 1868.

[Transkription: Christoph Hust]