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Archiv für den Monat März 2012
»Aus der Schweiz«: Joachim Raff, Hegel und die ästhetische Legitimation eines Musikstücks
Ein Komponist rechtfertigt seine Komposition – von der Gattung über Melodik und Form bis zur Satzstruktur: Joachim Raffs Einführungstext zu „Aus der Schweiz: Eclogue fantastique“ für Violine und Klavier op. 57, 1848/1853. Bezeichnend für Raff: Als Autorität wird Hegel angeführt.
P. P.
Indem ich beifolgendes Werk edieren ließ, führe ich mich beim Publicum mit dem ersten Instrumentalstücke solcher Gattung ein. Die Critik möchte sich befremdet finden, daß ich hierzu nicht einen sonatenförmigen Satz gewählt habe; ja, wer immer in einem etwas bequemen Conservativismus befangen ist, wird das beikommende Stück nach blosem Erblicken des Titels als keiner Beachtung werth und als einer unbedachten, ernsten Critik selbst baaren und daher auch nicht würdigen Feder entflossen, bei Seite legen. Allein trotzdem, daß ich jenes Vorurtheil kenne, fand ich es doch angemessen, mit diesem Stücke in dem Genre zu debutiren, dem es äußerlich angehört. Ich begnüge mich einstweilen auf das zu verweisen, was ich in Bezug auf das derzeitige Verhältniß des Kammerstyles zum Salonstyle in dem Begleitschreiben zu meinen »Frühlingsboten« verwichenen Monats angedeutet habe, werde mir aber bei Veröffentlichung meines ersten großen Klaviertrio in 4 Sätzen eine ausführlichere Erörterung meiner bezüglichen Absichten erlauben. Ich beschränke mich daher heute auf wenige Andeutungen, welche über Inhalt, Form und Technik dieses Stückes einiges Licht zu verbreiten geeignet seyn könnten.
Man wird der Ueberschrift »aus der Schweitz« [sic] sofort entnehmen, daß Erinnerungen an mein Mutterland, aus dem ich seit 8 Jahren abwesend bin, mir den Inhalt des Stückes diktirt haben. Jene Erinnerungen sind wesentlich landschaftlicher, mithin räumlicher und descriptiver Natur. Aber wer wüßte nicht, welcher Unterschied zwischen dem Räumlichen des Malens und des Tondichtens besteht? Liegt nicht in jenem Unterschiede ein wesentliches Bestimmungsmerkmal der beiden Kunstmateriale? Ich erinnere hier nur an die feine und schwere Erklärung Hegel’s: »Das Material der Musik, obschon sinnlich, geht zu noch tieferer Subjectivität und Besonderung fort. Das Idealsetzen des Sinnlichen durch die Musik besteht nämlich darin, das gleichgültige Auseinander des Raumes, dessen totalen Schein die Malerei noch bestehen ließ und absichtlich erheuchelte, um gleichfalls aufzuheben, und in das individuelle Eins des Punktes zu idealisiren. Als dieses Aufheben aber ist der Punkt in sich concret und thätiges Aufheben innerhalb der Materialität, als Bewegung und Erzittern des materiellen Körpers in sich selber in seinem Verhältnisse zu sich selbst. Solche beginnende Idealität der Materie, die nicht mehr als räumliche sondern als zeitliche Idealität erscheint, ist der Ton, das negativ gesetzte Sinnliche, dessen abstracte Sichtbarkeit sich zur Hörbarkeit umgewandelt hat, indem der Ton das Ideelle gleichsam aus seiner Befangenheit im Materiellen loslöst.« – Wenn nun weiterhin die Lyrik der Malerei in gewissem Sinne identisch ist mit der Lyrik der Musik, und selbe zum Zwecke haben soll, die Nachbildung einer Stimmung des Naturerlebens entsprechend einer Stimmung des Gemüthslebens zu geben, so kömmt es bei Erfüllung dieses Zweckes vor Allem auf das Verhältniß des Materiellen an. Der Maler wird die im sichtbaren, der Musiker die im hörbaren Räumlichen gegebenen Motive zu ergreifen haben, um jener Stimmung die nöthige concrete Unterlage zu geben, und ebenso werden beide bei Individualisirung, beziehungsweise Idealisirung jenes Concreten nach den Gesetzen verfahren müssen, die ihnen für die Verwendung ihres Darstellungsmaterials vorgeschrieben sind. Das Individuelle des Objects und Subjects ist hier identisch mit dem Characteristischen, und die Färbung desselben erheischt wesentlich das Locale. Allein in der Musik ist in solchem Falle das Wirkungsvollste in dem ihr eigensten Elemente der localen /: nationalen Species von Volksweise in Gesang und Tanz schon von selbst geboten, und darum sind ihre Chancen in einem Tableau wie das vorliegende Werk größer als die der Malerei, – größer in dem Maßstab als die Musik innerlich, die Malerei äußerlich angeregt und befruchtet wird. – Ich habe mich dieser, wie ich glaube zu bekämpfenden Ansicht nicht entschlagen können, als ich das vorliegende Stück hervorbrachte. Indessen dürfte ich nicht vergessen, daß das Kunstproduct nur vorhanden ist, insofern es seinen Durchgangspunct durch den Geist genommen hat und aus geistiger producirender Thätigkeit genommen wird, und daß mithin in dem Tableau, welches ich entwerfen wollte, der Gebrauch von Originalweisen, welche ihrem Wesen nach mehr Natur- als Kunstproduct sind, nicht am Platze seyn würde. Die Nationalmusik (damit ich ganz ad rem spreche) der Schweizer ist von einer harmonischen Armuth, welche sich der künstlerischen Behandlung fast entzieht; dann involvirt sie, wie fast jede andere Volksmusik, gewisse melodische Einförmigkeiten, welche der Kunst, die das Endliche, Gemeine möglichst mildern und ferne halten soll, widerstreben. In meinem Gemälde, dessen Grundstimmung das elegische Pathos ist, mußte daher meiner Ansicht nach eine künstlerische Nachahmung des Nationalen Platz greifen, auf deren Gelingen mich die genaueste Kenntniß eines Elementes, mit dem ich von Kindheit an vertraut ward, hoffen ließ. Andererseits verlangte die unumgängliche Assimilirung jenes pathetischen Ausdrucks dem nachgebildeten nationalen ein Absehen von jeder harmonischen oder imitativcontrapunctischen Behandlung, welche die Ungleichheit der zu einigen Bestandtheile nur allzusehr hervortreten lassen konnte. Es mußte daher ein ebenmäßiger, anmuthiger melodischer Styl in Anwendung gebracht werden, welcher mehr durch Feinheit und Elasticität als durch Tiefe und Erhabenheit sich bemerklich machte.
Wenn auch der Darstellung der Erinnerungen, die sich in diesem Werke aneinanderreihen, allerdings eine unwillkührliche – ich möchte sagen idiosynkratische Folge zu Grunde liegt, so halte ich doch für überflüssig selbe hier im Worte auszudeuten. Es ist ja das schöne Recht und die reizvolle Macht der Musik Ahnungen und Gefühlen einen Spielraum zu öffnen, welchen das reale Wort nicht gewährt oder gar zerstört. Aus eben diesem Grunde lasse ich es auch ab eine Analyse der Form zu machen. Man wird bei flüchtiger Durchsicht über die relative Vollkommenheit oder Unvollkommenheit derselben sogleich ins Reine kommen, und jedenfalls weder Klarheit noch Rundung des Zuschnittes vermissen. Der Kuhreigen, der Volkstanz und das Schifferlied welche in die Elegie episodisch verwoben sind, dürften den idyllisch-elegischen Character, welcher mich zu der Benennung »Ekloge« veranlaßte, nicht minder ausprägen, als anderseits die ganze Gestaltung einem von jeder historischen Form losgelösten Gebilde sich nähert, welchem der Name eines »fantastischen« unabweislich zukömmt. Wenn von der Form der Variation Gebrauch gemacht ist, so wolle man bedenken, daß eine gewisse Breite, die das ganze Gemälde wegen Vermittlung der in ihm enthaltenen Contraste bedingte, jene gefällige Vertiefung in abgerundete liedförmige Sätze, die sich einer andern formalen Ausbeutung entziehen, mindestens entschuldigen, wo nicht rechtfertigen kann.
Hat man schon aus dem eben Gesagten zur Genüge abnehmen können, daß ein tiefspiritualistischer Gehalt in diesem Werke nicht zu suchen sey, so wird man darauf vorbereitet seyn, die Technik desselben auf eine anmuthige sinnliche Wirkung zielen zu sehen. Daß ich den Dünkel nicht besitzen würde, über das schöne Erbe Paganini’s und Liszt’s gleichgültig oder verächtlich hinwegzugehen, konnte man im voraus wissen. Ich halte die Wirkungsfähigkeit, zu welcher jene Männer die Instrumente erhoben haben, für welche ich hier schrieb, für ebenso berechtigt als überhaupt alle sinnliche Wirkung in einer Kunst seyn kann, welche sich eben durch den Gehörsinn an’s Gemüth wendet. Ich halte es ferner für die »verdammte Schuldigkeit« jedes begabten Componisten, sich der durch jene Männer erzielten Wirkungen zu bemächtigen, und selbe im Dienste einer besseren Richtung zu verwenden, als diejenige gewisser geist- und gemüthsloser Virtuosen der Gegenwart ist, welche den glänzenden Schatz, den jene Meister uns übergaben, in elenden Kupfermünzen verwerthen. – Indessen muß ich mir erlauben auf eine Eigenheit, welche meine Diction in allen Ensemblestücken für Piano und ein Streichinstrument kennzeichnen wird, im voraus aufmerksam zu machen.
Die Klangfarbe des Streichinstrumentes ist von der des Piano so verschieden, daß, wie sehr man auch in harmonischer Schreibart bemüht seyn möchte einen Zusammenklang (Gleichklang) auf dem Papier herzustellen, für das Ohr doch immer der Stimmgang des Streichinstrumentes sich in einem separaten und integralen Ductus bemerklich machen wird. Ich verzichte daher auf jene Wirkung für die Augen und schreibe für jedes Instrument nach der ihm eigenthümlichen Darstellungsfähigkeit.
Auf den Risico der einstimmigsten alttestamentarischen Verdammniß bekenne ich, daß ich in dem freien und ungebundenen Nebeneinander der beiden Spieler eine bessere Harmonie gewahre, als in dem erzwungenen und alle Individualität hemmenden Mit- und Ineinander derselben. Vielleicht gelingt es mir, dies scheinbare Paradoxon in meinen folgenden Arbeiten dieser Gattung, wovon zunächst zwei große Notturnos für Klavier und Geige erscheinen, practisch zu einem ästhetisch-musikalischen Corollar zu machen, da man in demselben auch die Art des harmonischen Gegensatzes besser erkennen kann, welche durch jene Ansicht von der Instrumentation bedingt ist. Indem ich hier ein Moment nur andeute, auf welches ich bald ausführlicher zurückkommen muß, schließe ich diese Zeilen. Ich hoffe daß die Detailarbeit in der Ekloge als die Frucht einer redlichen und durch die nöthigen Kenntnisse unterstützten Bemühung angesehen werde, und die wohlwollende Critik daraus den Schluß ziehen möge, daß es mir, wenn vielleicht an Talent, doch nicht an jenem Fleiße fehle, welcher zur Gestaltung eines modernen Kunstwerkes nachgerade unentrathbar ist.
Weimar im October 1853.
Joachim Raff
[Transkription: Christoph Hust]
Musikgeschichte, Stand 1878
Am 22. September 1878 hielt Joachim Raff als Gründungsdirektor von Dr. Hoch’s Conservatorium in Frankfurt am Main seinen Inaugurationsvortrag. Raff stellte einen Abriss der Musikgeschichte von der Antike bis in die Neuzeit vor, der die Frage beantworten sollte, weshalb es Konservatorien geben müsse. Heute ist seine Rede (die damals in der „Neuen Frankfurter Presse“ abgedruckt wurde) als historisches Dokument faszinierend. Auch wenn nach heutigem Wissensstand sicherlich nicht alles stimmt: Die hegelianische Argumentation, die Suche nach gemeinsamen, geschichtsphilosophisch bestimmten Begründungen aller Künste (und damit der Versuch einer integrierenden „Kulturgeschichte“) und die Ursache-Wirkungs-Ketten, die Raff auf deren Basis konstruiert, sind bezeichnend für das Geschichtsbild des 19. Jahrhunderts.
Hochverehrte Anwesende!
Sie haben aus dem Munde des Herrn Vorsitzenden der Administration der Dr. Hoch’schen Stiftung soeben Alles erfahren, was über Ursprung und Zweck dieser Stiftung, sowie über die bisherige Geschichte ihres Objectes zu sagen war. Es erübrigt mir nur, dem hochverehrten Vorredner für sein Exposé zu danken, womit er auch heute wieder, wie von Anbeginne, seine liebevolle Hingabe an die Angelegenheiten unseres Institutes bethätigt hat, und zu versuchen, ob es mir gelinge, Ihnen in möglichster Kürze einige Andeutungen über die Aufgabe solcher Anstalten, wie die unserige es sein soll, zu geben.
Der Name Conservatorium kömmt von conserviren, erhalten. Es soll also in so benannten Anstalten Etwas erhalten werden, was die Musik unmittelbar angeht. Dieses zu Erhaltende kann nicht die musikalische Production selbst sein, denn diese geht nicht von einem ganzen Institute, sondern von einzelnen Personen aus. Es kann also nur auf Erhaltung dessen abgesehen sein, was die Hervorbringung des musikalischen Kunstwerkes technisch bedingt, und auf die Erhaltung derjenigen Elemente, welche eine gute Wiedergabe desselben sichern. Das erstgenannte sind die für das Schaffen, wie für das Erfassen des Geschaffenen nöthigen theoretischen Kenntnisse, die letztgenannten die vocalen und instrumentalen Mittel der Ausführung. Fassen wir Beides unter dem Namen Technik zusammen.
Das musikalische Kunstwerk nun ist, wie jedes andere, persönlich, örtlich und zeitlich bedingt. Die Summe dieser Bedingungen nennen wir Styl. Und dieser bildet dann das zweite Object der Conservatorien. Erhaltung der Technik und des Styles also ist die Aufgabe musikalischer Conservatorien. Der Ausdruck Conservatorium ist trotz seiner lateinischen Abstammung modern; die Sache aber, die er bezeichnet, ist schon sehr alt, wie hier in Kürze nachgewiesen sein soll.
Der Mensch bildete zuerst jene spontanen Vorrichtungen zur Kunst aus, zu welchem er keines fremden Werkzeugs bedurfte, den Gesang, den Tanz, die Dichtkunst. Die ersten Tonwerkzeuge, welche dem Menschen gleichsam von der Natur dargereicht wurden, waren die Rohrpfeife, das Horn, die Muschel. Um zur Saite zu gelangen, war schon eine längere Zeit nöthig; der Bogen gehört sogar erst der neueren Kunst an. Erwarten Sie nicht, daß ich an dieser Stelle Ihnen zeige, wie aus der Panspfeife sich nach Jahrtausenden die Orgel entwickelt, – aus dem schon den Alten bekannten Hackbrett und der Harfe das moderne Klavier, und was ähnlicher Metamorphosen mehr sind. Ich will vielmehr nur noch erwähnen, daß die Alten über Melos und Rhythmus nie hinauskamen, und daß die gewaltigsten, geschichtlichen Umwälzungen nöthig waren, damit vor etwa 900 Jahren auf keltogermanischem Boden die Wunderblume der Harmonie ersprießen konnte.
Die Entwickelung unserer Kunst nahm ihren Verlauf ungefähr wie die der Poesie. Erst kam die Praxis, dann die Theorie. Um ein Werk wie die Poetik des Aristoteles zu veranlassen und zu ermöglichen, waren Jahrhunderte, und in diesen Homer, Sophokles und Aristophanes nöthig.
So mag es lange gedauert haben, bis eine Art von Melodie gefunden war, die je nach ihrer mehr sang- oder spielbaren Beschaffenheit entweder sich mit Poesie verband, oder zur Begleitung des Sanges diente, womit denn der Ursprung der Vocal- und Instrumentalmusik bereits angedeutet ist.
Die sinnlichen Culte, welche den meisten Völkern des Alterthums eigen waren, machten nun alsbald vom Gesange wie vom Tanze bei bedeutenden Feierlichkeiten ergiebigsten Gebrauch, und es läßt sich annehmen, daß sowohl bei den Egyptern, als in Mesopotamien hieratische Schulen für die Fortpflanzung der betreffenden Tonweisen und ihres Vortrags bestanden. Deutlicher tritt dies dann bei den Juden hervor, wo schon zur Zeit Samuels in den Versammlungen der Nebiim oder Propheten der Gesang mit Saiten (d.h. Kneif-) und Blasinstrumenten begleitet wurde, und die Musikpflege solche Fortschritte machte, daß zur Zeit Davids bereits jeder Chor seinen Vorsänger, jedes Orchester seinen Solospieler (Menasséach) hatte, welche die Aufführungen leiteten und die vorkommenden Soli vortrugen, was voraussetzt, daß hier schulmäßig studirt wurde, und daß die betreffenden Weisen von Mund zu Mund und von Hand zu Hand überliefert wurden.
Nicht viel anders verhielt es sich bei den Griechen. Nur war die öffentliche Anwendung der Musik bei ihnen eine ausgedehntere, weil sie bereits Theater hatten. In diesen trat erst der Chor mit Orchesterbegleitung auf; später, als der Chor abgeschafft wurde, spielte das Orchester allein. Chor und Orchester waren von der Choregie ständig angestellt. Musik wurde in den Schulen gelehrt; die größten Philosophen betrachteten sie als ein Erziehungsmittel. Schon von Pythagoras an war sie Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen und endlich ward dem die Krone aufgesetzt durch Erfindung einer Notenschrift, welche, obgleich nach unseren Begriffen complicirt und schwierig, doch die Verbreitung und Erhaltung der Lehre mächtig unterstützte. Daß man noch zur Zeit des Aristophanes auf eine stylvolle Wiedergabe der überkommenen Weisen hielt, und Neuerungen, die hiegegen verstießen, nicht gerne sah und hörte, erhellt aus den Versen des Dichters in seiner Komödie »Die Wolken«:
»Doch wenn sich nur einer zu schäkern erlaubt oder Schnörkel aufschnörkelt der Weise,
Wie jetzt es die Schule des Phrynis erheischt, mit erkünsteltem, schwierigem Getriller,
Da regne es Schläg’ in reichlichem Maße, als seien die Musen gefährdet.«
Mit Griechenland hatte die Musik der Alten ihren Gipfelpunkt erreicht. Das kriegerische Rom war unmusikalisch, und wenn auch auf seinem Boden die griechische Musik heimisch wurde, so ging sie doch nicht in Fleisch und Blut des Volkes über, sondern blieb zumeist Eigenthum der Gebildeten.
Das Christenthum und die Völkerwanderung bahnten eine neue musikalische Cultur an. Weisen, die man sonst in den Tempeln des Orients und Griechenlands vernahm, mögen wohl, mit christlicher Textunterlage versehen, anfänglich bei den religiösen Ceremonien der Christen gesungen worden sein. Diese Weisen wurden wahrscheinlich in den ersten Seminarien tradirt und von Gregor dem Großen aufgeschrieben und mit neuen vermehrt. Das schon von Ambrosius inaugurirte Tonsystem wurde von Gregor erweitert und zugleich eine Notenschrift, die Neumen, eingeführt, aus welcher nach tausend Jahren und stetigen Wandlungen unsre gegenwärtige Notenschrift hervorging. Eine Sängerschule überlieferte den Vortragsstyl dieser Weisen, und christliche Fürsten, wie z.B. Karl der Große, versahen sich zu gleichem Zwecke mit Sängern aus der besagten Schule.
Bald war der neue Gesang in den Klöstern eingeführt, und hier entstanden später die ersten Diaphonien, die Anfänge des Contrapunktes, aus welcher nachher die moderne Harmonie abstrahirt wurde.
Die große Antithese, welche aus der Vereinigung der den alten Glaubenskreisen entgegengesetzten Religion der Transcendenz mit dem Genius der skandinavischen und keltogermanischen Völker entstehen und der Antike im weitesten Sinne gegenüber treten sollte, bildete sich mehr und mehr aus, bis endlich in der Architectur der im griechischen Tempel vorherrschenden horizontalen Linie die den gothischen Dom characterisirende Verticale, in der Poesie dem Classicismus die Romantik, in der Musik der Melodie die Polyphonie gegenüber stand, und selbst in der Malerei, wo es lediglich auf mehr oder minder glückliche Nachahmung der Natur ankam, durch die Erfindung der Oelmalerei ein technisches Medium gefunden war, welches diese Kunst einer ungeahnten Vertiefung entgegenführen half.
Wie nun später der romanische Geist in der Renaissance eine partielle Reaction erzeugte, welche auch in der Entwickelung unserer Kunst von nachhaltigen, stets noch fühlbaren Folgen begleitet war, soll hier nicht erörtert werden. Es genüge zu sagen, daß in der neuen Kunstmusik sehr bald ein mächtiger Aufschwung stattfand, den die Kirche begünstigte, und daß auch die Volksmusik, insbesondere die Instrumentalmusik bald den gewaltigen Einfluß derselben verspürte. Die allmäligen zweckmäßigeren Aenderungen in der Notenschrift, endlich die Erfindung der Buchdruckerkunst, welche bald auch den Typen-Notendruck im Gefolge hatte, erleichterten außerordentlich die Verbreitung einer gleichmäßigen Technik. Hierzu kam später die strenge Zucht in den Zunftschulen der Meistersinger und Stadtpfeifer, welche, namentlich bei ersteren, schließlich in Pedanterie ausartete.
Wenn auch die religiösen Wirren am Ausgange des Mittelalters einen bedeutenden Rückschlag auf unsere Kunst ausübten, so läßt sich nicht leugnen, daß doch die politische Gestaltung Deutschlands nach dem westfälischen Frieden der weiteren Entwickelung der Musik um so günstiger war, als diese letztere gerade um diese Zeit in allen anderen südlich und westlich von uns gelegenen Culturvölkern einen bedeutenden Aufschwung nahm. Demnächst stellte sich eine enorme Production ein, für welche in den zahlreichen Capellen reichsunmittelbarer geistlicher und weltlicher Herren, wie an den Instituten größerer Höfe ebenso Bedürfniß als Verbrauch war. Später, nachdem das ganze Material der Tonkunst: Production, Aufführung, Schrift, Druck bereits eine große Vervollkommnung erreicht hatte, drängte sich immer mehr die Nothwendigkeit auf, durch zweckmäßige Anstalten die Erkenntniß jener Werke und die Art ihrer Aufführung sicher zu stellen, sowie auch die Summe des jeweiligen technischen Vermögens zu erhalten und zu überliefern, was zuerst in Italien durch Errichtung von Conservatorien geschah. Diesem Beispiele folgte nach und nach Frankreich, Deutschland, Belgien und Rußland. Der Zweck ist bei allen diesen Instituten der nämliche, indessen wieder in verschiedenem Umfange verfolgt und erreicht, je nachdem die Zahl der Unterrichtsgegenstände größer oder kleiner, die Lernzeit länger oder kürzer ist. Einige Institute sind Convicte, andere nicht, einige sind Staats-, andere Privatanstalten. In Deutschland sind ihrer Entstehung nach die bemerkenswerthesten die Conservatorien in Wien, Prag, Leipzig, Cöln, Stuttgart, München, Berlin, Dresden. Die Aufgabe der Conservatorien wächst mit jedem Jahr, und schon jetzt ist es kaum mehr möglich, die Lernzeit, welche übrigens in Italien ursprünglich auf acht Jahre festgesetzt war, auf vier Jahre zu beschränken.
Ist nun die Summe des zu Ueberliefernden an sich groß, so bedarf es nur des Hinweises auf die Thätigkeit wissenschaftlicher Institute, um zu dem Schlusse zu gelangen, daß die Arbeit hervorragender Lehrer nicht mehr bloß eine epimatheische sein könne, welche sich und andere darauf beschränkt, das Vorhandene und Vergangene blos kennen zu lernen, sondern daß sie das Erkannte und Bekannte zu befruchten wisse, und eher der Zeit vorangehe, als hinter ihr zurückbleibe.
Es darf nicht verheimlicht werden, daß, einzelne Erscheinungen abgerechnet, die Kunst gegenwärtig ungleich mehr in die Breite als in die Tiefe geht; auch nach dieser Seite haben wir eine große Aufgabe zu erfüllen, indem wir den Sinn der uns anvertrauten Zöglinge an das Inhalt- und Charactervolle in der Kunst gewöhnen, und das Oberflächliche und Gehaltlose von ihnen fern halten.
Vergessen wir nie das schwer wiegende Wort unseres Schiller, der uns zuruft: Die Kunst sinkt mit Euch, mit Euch wird sie sich heben!
Mit diesen Anschauungen und Gesinnungen werde hier an die Arbeit gegangen, und bei ihrem Beginn ertönen uns zu einer – so Gott will – glücklichen Vorbedeutung die Klänge unsterblicher Meister!
[Transkription: Christoph Hust]
»Durch welche formellen Mittel ist Wurscht.« Alexander Ritter, Ludwig Thuille und das Leitmotiv
Am 1. August 1893 diskutierte Alexander Ritter in einem Brief an Ludwig Thuille die Anwendung von Leitmotiven (D-Mbs, Nl. Alexander Ritter, ANA 493). Ritter, selbst Komponist, bezog sich dabei auf sein Libretto für die Oper »Theuerdank«, die im Jahre 1897 in Thuilles Vertonung in München auf die Bühne kommen sollte. In der Debatte um Leitmotivik der 1890er Jahre ist dies eine von mehreren Quellen, die eine Flexibilisierung über Personenmotive hinaus (von Ritter abschätzig als »Paßkarten« bezeichnet) fordert.
Was Sie mir ^über^ die zwei Leitmotive für den Max schreiben, gefällt mir sehr wohl, und ich würde ihm deren noch mehr anhängen. Ich bin nämlich kein Freund der rein persönlichen Leitmotive, und ich glaube daß diese nur im Lohengrin (aus ganz gewißen Gründen) ihre Berechtigung haben. Schon im Tristan entnimmt Wagner die Leitmotive den verschiedenen Empfindungen der handelnden Person, so daß diese durchaus nicht mehr bei jedem Wiederauftritt ihre bestimmte Paßkarte vorzeigt. – Haben Sie nun diese ersten zwei Leitmotive, wie mir scheint, sehr richtig und schön gewählt, so werden Sie im weitern Verlaufe gewiß künstlerisch veranlaßt werden, dem Max noch mehr derlei anzuhängen, u. werden dadurch die Gefühls-verständlich-machung (nanu!!) dieser Figur sehr erhöhen u. verschönern.
Zum Beispiel:
Im Max treten zwei sehr gegensätzliche Characterzüge oder Empfindungsarten scharf hervor: er ist, wohl durch die empfangene höfische Erziehung, etwas oberflächlich und frivol. Diesem Zuge gegenüber, steht ein eminent idealer hoher immer aufwärts strebender Sinn. Er hat die Schönheit der Französinnen, Italienerinnen und Spanierinnen weidlich gekostet, dennoch geht ihm die ideale Schönheit der deutschen Frau über Alles. Dieser ideelle hohe Sinn überwindet im entscheidenden Moment immer seine Frivolität und macht sie unschädlich.
Giebt das vielleicht wieder zwei Motive? –
Oder: Da dieser hohe ideale Sinn jedenfalls wohl der Schöpfer seiner späteren Her[r]schertugenden ist, reicht hier vielleicht schon eine Aehnlichkeit mit Ihrem Krönungsmotiv?
Ja Liebster! darauf kann Ihnen immer Einer antworten, Ihr eigener künstlerischer Instinct. Und mich bewahre Gott davor, daß ich Ihnen gegenüber in den Fehler des »großen« Guntram verfalle und dozire!
Nur um Eines bitte ich Sie inständigst: thuen Sie alle etwaige Componisten-Eitelkeit beiseite! Folgen Sie nur, ausschließlich dem inneren Drang: das was Sie dichterisch be[z]wingt u. erfüllt, zu deutlichem Ausdruck zu bringen. Durch welche formellen Mittel ist Wurscht. Dann werden die herrlichsten musicalischen Formen auf dem Papiere stehn, die nun aber auch wirklich Ihnen ureigen sind.
[Transkription: Christoph Hust]
»Ein umfassender Feldzugsplan ist in meinem Kopfe fertig«: Joachim Raff coacht Peter Cornelius
Vom 8. Oktober 1868 datiert der folgende Brief des Komponisten und späteren Direktors des Frankfurter Konservatoriums Joachim Raff an seinen Kollegen Peter Cornelius (D-Mbs Raffiana II). Was Raff hier über die wirtschaftlichen Hintergründe der Musik, insbesondere des Musiktheaters, und die strategische Planung einer Komponistenkarriere »im Schatten Wagners« schreibt, ist faszinierend zu lesen – und erstaunlich unverblümt geschrieben!
Lieber Cornelius!
Deinen Brief vom 28. August d. J. [1868] zu beantworten ist mir erst heute möglich, da ich wieder einigermaßen korrespondenzfähig geworden bin. Erwarte indeß auch heute keinen langen Brief von mir, denn es geht mir mit der Zeit sehr knapp.
Die zwei ersten Seiten Deines Briefes seien ganz und gar übergangen, weil sie Dinge berühren, über die wir verschieden denken, und ich beginne gleich bei pag. 3, welche vom »Cid« handelt. Seit Bülows Abreise habe ich Dein Werk sehr aufmerksam durchgenommen, und mir also eine beiläufige Meinung darüber gebildet. Dasselbe hat mir in mancher Beziehung eine große und aufrichtige Freude bereitet. Allein anderseits kann und darf ich dies auch nicht vergessen, daß Du – wofern Du Dich nicht auf ein fruchtloses Märtyrium capricierst – Verschiedenes an Diesem Werke und an Deiner ganzen Schreibart für’s Theater wirst ändern müssen. Du wirst mir dies um soweniger übel nehmen, als Du weißt, daß ich in Sachen der Kunst immer ziemlich praktisch gewesen bin, und als es sich – bei Lichte besehen – um Dein Sein oder Nichtsein in der größeren Oeffentlichkeit handelt.
Zwei Dinge, von denen die öffentliche Existenz eines Componisten bedingt ist, scheinen Dir im Ganzen noch nicht recht zum Bewußtsein gelangt zu sein:
A., das individuelle künstlerische Verhältniß zum Publicum,
B., der praktische Betrieb der Production.
Zu A. muß ich bemerken, daß Dein »Cid« stark nach Wagner’s »Lohengrin« und selbst »Tristan« ausschaut, und daß der Unterschied zwischen Dir und Wagner ein mehr innerlicher als äußerlicher, dem Publicum in die Augen fallender ist. Es kann nicht meine Sache sein, Dir in extenso zu deduziren, was hieraus in der Oeffentlichkeit nothwendig für Dich resultiren muß. Fändest Du es nicht durch eigenes Nachdenken, so zeugte dies von einem Mangel an Objectivität, gegen den ich vergeblich anzugehen versuchte. Nur das Wichtigste will ich andeuten.
Nicht nur in Bezug auf subjective Originalität verlierst Du im Vergleich mit Wagner, sondern auch in Bezug auf die objective Wirkung, trotzdem, daß Du in formeller Beziehung Anstrengungen gemacht hast, um Dich von Deinem Vorbilde zu emancipiren, resp. über selbiges hinauszukommen, welche man nur loben kann. Du wist außerdem nach Deinem »Cid« im Ganzen und Großen als ein Nachahmer Wagners angesehen werden, der weder die Präcedenzien, noch die Verdienste seines Vorbildes für sich hat, und daher selbstverständlich nur unter den Unzukömmlichkeiten zu leiden habe, mit welchen die Gegner der Wagnerschen Richtung den Urheber derselben in reichem Maße zu bedenken nicht aufhören, ohne den Ruhm des Neuerers, welcher selbst in einer Zweideutigkeit immer noch ein Ruhm bleibt, an Deinen Namen zu fesseln.
Dieses wolltest Du weniger hinsichtlich der Vergangenheit bedenken, als vielmehr in Bezug auf die Gegenwart, da Du ja doch bereits wieder mit einem neuen Werke beschäftigt bist.
Zu B. muß ich ausführlicher sein. Die Aufführung eines Werkes en famille – viel besser ist eine solche in Weimar nicht – constituirt weder Erfolg noch Existenz einer Partitur. Damit diese letztere kein Phantom sei, muß ein Werk im Klavierauszug und Partitur gedruckt werden. Besprechungen des so auf den Musikalienmarkt gebrachten Werkes sind wünschenswerth, aber nicht unumgänglich nothwendig. Dagegen ist die durch den Druck der Partitur ermöglichte Aufführung an verschiedenen Bühnen zugleich nach Kräften anzustreben.
Ein Klavierauszug von ca 200 Seiten, wie der des »Cid« sein würde, verursacht etwa 4–500 Thaler Herstellungskosten. Die Autographie der Partitur, welche meines Wissens nur in Leipzig oder in Cöln anständig hergestellt werden kann, kostet bei einer Auflage von 100 Exemplaren 300 Thaler. Da Du Dich im Musikhandel bis jetzt nur schwer betheiligt hast, so wirst Du schwerlich einen Verleger finden, der für Alles aufkömmt, resp. Dir die Oper in Bausch und Bogen abnimmt. Es entsteht nun folgende Frage:
- Hast Du das bestimmte Vertrauen, daß der »Cid« sich für die Bühne und den Verlag rentiren werde, und »willst Du«, daß Einfluß und Geld, welche für die Flüssigmachung eines solchen Werkes unerläßlich sind, dieser Oper zugewendet werden sollen?
Wenn Du diese Frage mit »Ja« beantwortest, so kömmt es selbstverständlich an Deine Freunde, resp. an mich, dem Du Dein Vertrauen zuwendest, Dir an die Hand zu gehen, damit Dir Alles möglichst erleichtert werde, und in diesem Falle hast Du mein Wort, daß Dir mein voller Beistand erstehen und verbleiben soll. Ein umfassender Feldzugsplan ist in meinem Kopfe fertig, und ich werden denselben von A–Z realisiren, so, daß deine persönliche Cooperation auf etwa 6–7 Wochen Arbeit und zwei kleine, keineswegs kostspielige Reisen beschränkt bleiben soll, exclusive der Druckcorrecturen natürlich, von denen kein Autor entbunden werden kann.
Wenn sodann Deine Wünsche gründlich erfüllt sein werden, soll es mich freuen; aber aufs Bestimmteste muß ich von Vornherein jede Art von Erkenntlichkeit ablehnen, da ich mit dem was ich thue, nur der Rücksicht genügen will, welche man Deinem künftigem Streben, und so vielem Gelungenen und Bedeutenden, was sich in Deinem Werke vorfindet, schuldig ist.
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß ich der nächsten Aufführung der »Meistersinger« in München beiwohne. Du hast also nicht nöthig, mir vor dem 18. d.M. wieder zu antworten. Dies letztere wird aber am Platze sein, wenn ich zu der bevorstehenden Aufführung nicht bei Euch gewesen sein sollte.
Inzwischen also leb’ wohl! Reime Alles, was ich Dir gesagt, als die unumwundene aber wohlmeinende Ansicht eines älteren vielgeprüften Mannes auf, der seine Illusionen in Weimar zurückgelassen hat, und gewohnt ist, mit der realen Wirklichkeit zu rechnen, dem es aber aufrichtig darum zu thun ist, Dich vorwärts zu bringen.
Mit bestem Gruße
Dein J Raff
Wiesbaden 8. October 1868.
[Transkription: Christoph Hust]