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August Bungert: Vorwort zu „Nausikaa“ (1885)
Im Jahre 1885 veröffentlichte August Bungert im Verlag von Friedrich Luckhardt die Erstfassung eines Librettos seiner Tetralogie „Homerische Welt“. Er wählte „Nausikaa“ als Ausgangspunkt, von dem aus sich das Konzept allerdings in den nächsten Jahren wesentlich verschieben sollte. Als die Tetralogie von 1896 bis 1903 in Dresden, Berlin und Hamburg über die Bühnen ging, handelte der erste Teil von Kirke, der zweite von Nausikaa, der dritte von Odysseus’ Heimkehr und der vierte von Odysseus’ Tod, den Homer gar nicht schilderte. Auch in der Ideenwelt hatte sich seit 1885 viel verändert; aus der Betonung des Lebens als Leiden und der Kunst als Tröstung wurde nach Bungerts Bekanntschaft mit Friedrich Nietzsche eine immer stärkere Akzentuierung des aktiven, handelnden Menschen und der selbstständigen Gestaltung des eigenen Geschicks.
Zur Einführung
Es giebt ein Wort, das so alt ist wie die Welt. Alle dahingegangenen Völker kannten und alle bestehenden Völker kennen dieses Wort. In ihren Religionen ist es niedergelegt oder es haben uns das Wort ihre Dichter und ihre Philosophen in ihren Werken ausgesprochen. In den verschiedensten Weisen ward es und wird es gesungen. Im einfachen Volksliede wie im höchsten Kunstgedicht klingt uns das Wort entgegen. Am Abend eines stillen, eingeschränkten Lebens ertönt das herbe Wort und am Ende des prometheischen Ringens eines jeglichen Helden, eines jeglichen Uebermenschen vernehmen wir es. – Dieses alte orphische Urwort heißt: „Entsagen!“ Das Wort „Entsagen“ ist der Grundgedanke unseres Daseins – es ist das Ende vom Lebensliede. Das Höchste, was der Mensch erreichen kann, ist als Heros, entsagend, au diesem Leben zu scheiden! Kein Erdenwanderer bringt es weiter, als, nach übermenschlichem Ringen und Kämpfen, ausgesöhnt mit dem mühevollen, kurzen Dasein, mit Lächeln ohne Bitterkeit auf den Lippen, verscheidend, stammeln zu können: „Ich entsage!“ Dieses Wort, das mit jedem Schritt, den wir weiter thun auf dieser Lebensbahn, uns lauter und vernehmlicher tönt, macht uns reifer, stiller und mahnt uns zu bedenken, daß Leben Sterben ist.
Wo aber ist der Lethebecher, aus dem die müde Seele Vergessen trinken kann und uns alle Qual des Daseins entfernen? – Die Kunst ist der Becher. Aus diesem Becher trinken wir jegliches Lebens-Leid fort.
Das echte Kunstwerk bietet uns das Menschenleben, oder Episoden desselben, von jenem geklärten, hohen Standpunkte aus gesehen, wo nur die bedeutungsvollen Fäden, welche die Handlung, d. h. den symbolischen Grundgedanken des Kunstwerkes bilden, licht und klar uns entgegenleuchten. Aus diesen Fäden, einem Liniensystem gleich, bauen sich die ethischen Akkorde auf, die, mögen sie nun herb oder milde klingen, doch Musik sind, und unsere Seele klärend berühren. Unsere Seele wird mit dem Dichter hellsehend – hellhörend – entrückt im Lande der Kunst. Wie vergessen in solcher Anschauung, unter dem Banne des Kunstwerkes stehend, das eigene Leid, weil wir auch dieses nun von jenem geklärten, hohen, einzig wahren Standpunkte des Weltgeistes aus ansehen und empfinden!
Das schöne erquickende der Kunst ist eben der klingende göttliche Akkord, den der Dichter, sein Kunstwerk schaffend, gehört hat, nun uns in diesem enthüllt! –
Der Grundgedanke des vorliegenden Werkes ist: die Entsagung. Es ist also dasselbe alte Lied, das in dem größten Werk unseres größten Dichters, im Faust ertönt: „Entbehren sollst du, sollst entbehren!“
Das Ideal des griechischen Helden ist neben Achilleus vor allen Odysseus. Sein Leben heißt: Kämpfen – genießen – leiden! Er ist der unermüdliche Kämpfer – der nie ermüdende Genießende – der erhabene Dulder! Kurz vor dem Ende seiner Laufbahn tritt ihm im Phäakenlande, Nausikaa die Mädchenblume entgegen. Neuer Kampf – neues Leid! Aber zugleich, und dieses habe ich in meiner Dichtung besonders betont, ist ihm das Phäakenland auch das Land der Kunst; hier hört er seine eigenen Thaten bereits durch den Mund des Sängers verherrlicht. – Die ganze Art, wie auch Homer, am Schluß seiner Irrfahrten Odysseus noch nach Phäakenland gelangen läßt, die Schilderung des Volkes, dessen Freude und Lust am Dasein, seine Pflege und Verehrung des Schönen; dann die Art und Weise, wie Odysseus Nachts von diesem Traumlande schlafend fortgefahren wird, um Morgens endlich in seiner Heimat Ithaka zu landen – all dieses hat bei Homer einen eigenen, bei ihm ganz einzig dastehenden, beinahe phantastischen Zug. Wie ein Lethebecher ist dem Helden, nach dieser Seite hin, der Aufenthalt im Phäakenland –, wie ein Becher der Erquickung vor dem letzten Kampf gegen die Freier in der Heimat! –
Und nun Nausikaa! In der Odyssee im 7. und 13. Gesange bringt Homer wenigstens äußerlich nicht das Tragische der Gestalt zum Austrag. Es war dies aus vielen Gründen im Epos nicht am Platze. Das Verhältnis zur Nausikaa mußte und konnte nur vorübergehend dargestellt werden; denn es handelt sich vor allem um die Heimkehr des Odysseus. Dem Epiker genügte hier das Tragische nur anzudeuten. Daß der Dramatiker durchaus anders den Stoff anfassen mußte, ist natürlich. Auf Nausikaa’s Gestalt ruht, nachdem sie den Helden gesehen, der ganze Zauber, der bei Tag und Sonne, voll und stolz aufblühenden Rose – und bei Odysseus Abschied – steht sie da, wie die arme Blume, auf die der Reif der Frühlingsnacht gefallen ist! – –
*
Bezüglich der Betonung Nāūsika und Nausikaá statt der bisher durchweg gebräuchlichen bin ich theilweise derselben Ansicht wie Jordan, der in seiner neuen Uebersetzung des Homer auch Folgendes sagt: „Aus irrthümlicher Analogie mit Nausīthoos hat man bisher den Namen Nausīkaa ausgesprochen. Da der Name mit dieser Aussprache unschön klingt und das griechische Nausikaá in unserm lediglich accentuierenden Hexameter unmöglich ist, bin ich für die Aussprache Nāūsika.“
In der freien Strophe der Musik-Tragödie in keiner Weise jenem Zwange unterworfen, hab’ ich beides, sowol Nausikaá wie Nāūsika gebraucht.
Daß es lange Zeit ein Lieblingsgedanke Goethes gewesen ist, seine Nausikaa zu schreiben, daß er in Palermo am Strande wandelnd eine Skizze entwarf, die allerdings nur sehr dürftig ist, ist aus seiner Italienischen Reise bekannt. Dieses war am 16. April 1787; also vor beinahe 100 Jahren. Die nach einem späteren Entwurf ausgeführten Nausikaa-Szenen sind aus seinen Werken bekannt.
Sophokles soll eine Nausikaa geschrieben haben. Es ist uns aber leider nichts übrig geblieben; von den Scholastikern wird nur der Titel mitgetheilt.
Noch will ich hinzufügen, daß diese Nausikaa der dritte Theil, d. h. der III. Abend meiner Tetralogie „Homerische Welt“ ist.
Der erste Abend betitelt sich: Achilleus und Helena, mit dem Vorspiel: das Opfer der Iphigenie in Aulis.
Der zweite Abend: Orestes und Klytemnestra.
Der dritte Abend: Nausikaa.
Der vierte Abend: Odysseus Heimkehr.
Da indeß ein jedes Drama für sich allein besteht, so gehe ich einstweilen nicht darauf ein, den Grundgedanken des ganzen Werkes, wie auch der einzelnen anderen Abende hier näher zu entwickeln. Das Erscheinen des ganzen Werkes wird in nicht ferner Zeit erfolgen.
Pegli bei Genua, 14. März 1885.
August Bungert.
[Transkription: Christoph Hust]
August Bungert: Einführung zur „Faust“-Bühnenmusik (1903)
Nach den Aufführungen seiner Tetralogie „Homerische Welt“ wandte sich August Bungert sofort neuen Aufgaben zu. Vor dem Mysterium op. 60, einem Oratorium für Soli, Chor und Orchester, war Goethes „Faust“ sein erstes neues Projekt. Mit Bungerts Bühnenmusik wurde „Faust“ zur Tetralogie und zu einem postwagnerianischen „Bühnenweihespiel“, wie der Komponist es im umfangreichen Vorwort des Klavierauszugs darlegte.
Zur Einführung.
Im Auftrage des Rheinischen Goethe-Vereins, unter dem Protektorat Sr. Königl. Hoheit des Kronprinzen des deutschen Reiches und dem Vorsitze Sr. Excellenz des Ministers H. von Rheinbaben, frug im Februar dieses Jahres Max Grube, der Oberregisseur des Königl. Schauspielhauses zu Berlin, bei mir an, ob ich Zeit und Muße finden würde, bis zu Ende Mai eine neue Musik zu Goethe’s Faust zu komponieren.
Da ich eben mein Lebenswerk, die Musiktetralogie: Die Odyssee abgeschlossen hatte und längst der Plan in mir ruhte, an eine solche Arbeit heranzutreten, ohne daß indes eine Note dazu geschrieben war, so übernahm ich mit Freude und glühendster Begeisterung die Aufgabe.
In unbeschreiblicher Erregung wurde in etwa 7–8 Wochen die ganze Musik skizziert, Tag und Nacht daran geschrieben und bis zum festgesetzten Termin im Mai war die Instrumentation in der Hauptsache vollendet, die Klavierauszüge liefen in Korrekturabzügen bei den Proben ein, die Orchester- und Chorstimmen folgten bis in die letzten Tage vor den Erstaufführungen am 5., 6. und 7. Juli. [Anm. von Bungert: Allerdings rief die Überanstrengung der Augen eine starke lang andauernde Entzündung hervor.]
Manches konnte aus verschiedenen scenarisch-technischen Gründen nicht zur Aufführung kommen, doch im Ganzen wurde das Werk in 3 Abenden unter der Rollenbesetzung bedeutendster schauspielerischer Kräfte von Berlin und andern Hauptstädten Deutschlands in der von Max Grube eingerichteten Lesart, mit herrlichen Dekorationen von Georg Hacker, unter der vorzüglichen Leitung des Kapellmeister Fröhlig aufgeführt und fand in den 4maligen Cyklen der 3 Abende den begeistertsten Beifall des Publikums, das jeden Abend das Theater bis auf den letzten Platz gefüllt hatte. –
Einige Einführungsworte zu vorliegender Faust-Musik mögen gestattet sein.
Der I. Teil des Faust begann nach Vorausgang einer breiten Horn- und Trompeten-Fanfare mit dem Vorspiel auf dem Theater. Dann folgte das Ganze in der Original-Lesart bis zum Schluß mit einigen Strichen in der Walpurgisnacht; die Kürzungen mußten wegen mangelhaften scenischen Apparates stattfinden. Die Aufführung dauerte 6 Stunden, sodaß die Idee entstand, bei späteren Aufführungen den I. Teil auf 2 Abende zu verteilen; dann natürlich in breitester Weise die Walpurgisnacht zu bringen und zwar so, daß der 1. Abend mit der Hexenküche schließt und das Gretchen-Drama den 2. Abend bilden würde, während der II. Teil (auch in 2 Abende zerfallend), im 3. Abend mit der „Peneiosscene“ (Chiron, Faust, Manto) schloß, und dann im 4. Abend mit der Helena-Tragödie beginnend, bis zum Schluß des Werkes mit einigen Umstellungen und Strichen wieder möglichst die Goethesche Dichtung intakt ließ.
Von diesem Gesichtspunkt aus ist das Werk, wie vorliegend, anzusehen.
Durch die Einteilung des I. Teiles in 2 Abende ist es möglich, die einzelnen, oft sehr kurzen Scenen durch musikalische Zwischenspiele, die die vorhergehende Scene ausklingen lassen und in die folgende stimmungegemäß überleiten, zu verbinden. Es wird dadurch, abgesehen von der so erleichterten Verwandlung der Decoration, möglich sein, im Gemüt des Zuschauers die früher gesehene Handlung sich vertiefen zu lassen, und ihn halb traumhaft auf der Musikwelle in die Stimmung der folgenden Scene hinüberzutragen, sein Empfindungsvermögen von neuem spannend, ihn empfänglich zu machen, die Poesie der herrlichen Sprache ganz und voll zu genießen und in sich aufzunehmen.
Grade also eine ruhige, statt einer überhasteten Verwandlung der Scene, (wie dieses letztere bisher der Fall war), dürfte das Richtige sein; eine Musiküberleitung als Brücke von einer zur andern Scene, stets dem Inhalt beider Scenen gemäß. Man sehe sich als Beispiele die Gartenscene und Gartenhäuschenscene an; darauf folgend Wald und Höhle, Gretchen am Spinnrad, in Marthen’s Garten, Gretchen und Lieschen am Brunnen, Gretchen vor der Mater dolorosa, Zwinger und Valentinscene u. s. w.
Es sei nun hier gleich bemerkt, daß bei der Komposition, wie z. B. des Liedes: Gretchen am Spinnrad, der König in Thule, u. s. w. die idealste Besetzung gedacht ist, und daß nach Möglichkeit jeder Bühne den vorhandenen Darstellern gemäß sich einrichten wird.
Daß Goethe das ganze Werk gewissermaßen in Musik getaucht sich gedacht hat, geht aus unzähligen Stellen auf das evidenteste hervor. Auch stimmen darin wol sämtliche Kommentare überein. Sagt doch sogar der Dichter im II. Teil in der Euphorionscene: „Von hier an mit vollstimmiger Musik!“ [Anm. von Bungert: Wie gewaltig diese Scene in vorliegender Form wirkte, ersehe man aus den Berichten.] Er wünscht hier (und nun gar im Schlußakt des Werkes!) tatsächlich die Form der Oper. Des Näheren darauf einzugehen und dieses zu beweisen mag einem besonderen Aufsatz vorbehalten sein.
Es möchte, nebenbei bemerkt, in der ganzen dramatischen Litteratur kaum eine Gestalt geben, wo, wie bei der des Euphorion, in der Reihenfolge von Stimmungen und Scenen, das gesprochene Wort der innern Erregung gemäß so natürlich in das gesungene Wort übergeht; wo das Wort so zur Melodie sich gestaltet, gleichsam wie selbstverständlich; und wo ebenso natürlich und von sich selbst ergebend das gesungene Wort wieder in das gesprochene zurücktreten kann.
Man mag aus den kritischen Stimmen lesen, bis zu welcher gewaltigen, ergreifenden Wirkung sich dieser Akt in den Düsseldorfer Festaufführungen aufbaute.
Zum ersten Male findet man hier auch die 4teiligen Chöre am Schluß der Helena-Tragödie komponiert, beginnend mit dem Chore „Zurückgegeben sind wir dem Tageslicht“. Goethe hat zweifellos die Scene hier, nach dem erschütternden Akt, als ein Satyrspiel ähnliches Ausklingen sich gedacht. Daß bei richtiger glänzender Ausführung dieser Schluß bei Gesang und bacchantischem Tanz von grandioser Wirkung sein würde, ist zweifellos. Soll doch „an Prospekten und an Maschienen, an groß[en] und kleinen Himmelslichtern, Sternen, an Wasser, Feuern, Felsenwänden, an Tier und Vögeln nicht gespart werden – um mit bedächtiger Schnelle vom Himmel durch die Welt zur Hölle zu schreiten.“
Ganz verkehrt aber erscheint es, die obigen Chöre in den wundervollen Poesie-Worten sprechen und dann mit etwa 16 Takten Musik, die die Scene musikalisch illustriert, jämmerlich nachhumpeln zu lassen. Dann ist es schon richtiger und dramatisch gewaltig wirksamer, gleich mit den Worten der Helena oder des Phorkias „Wir sehn uns wieder, weit gar weit von hier“, zu schließen.
In den überall eingestreuten Liedern galt es, (natürlich immer mit Berücksichtigung auf den darzustellenden Charakter und auch der betreffenden Situation), vor allen Dingen den Volkston zu treffen, den Goethe, wie auch Shakespeare in den eingelegten Liedern beabsichtigt hat [Anm. von Bungert: Daß Goethe im Lemurengesang einen andern Vers des Totengräberlieds im Hamlet (ein altes Volkslied) aufnahm, darf als bekannt vorausgesetzt werden.]. –
Wie weit nun das melodramatische Element im vorliegenden Material benutzt wird, steht dahin. Als Grundsatz stellte sich der Tondichter die Aufgabe, durchweg das Übersinnliche, Geheimnisvolle, das Spukhafte, Fantastische, das Erhabene, vielfach auch das Dämonische mit Musik zu begleiten; es wird natürlich ganz von der Regie eines jeglichen Theaters abhängen, das sich eignende aus der vorhandenen Fülle zu bringen oder auszulassen; ebenso mag an der Hand der Regie und des Kapellmeisters oft die Komposition einer Stelle (möglichst leise gespielt) melodramatisch benutzt werden.
Auf den ersten Blick wird man sehen, daß (und wol zum ersten Mal) die melodramatischen Stellen sämtlich so im Auszug eingetragen sind, daß zu jeder Zeile, ja bis aufs Wort, genau die Musik, Takt für Takt angegeben ist. Da ebenso genau der Text der Dichtung in die Partitur eingetragen ist, bleibt dem Darsteller durchaus seine völlige Freiheit eines hier und da rascheren Tempos; es liegt in der Hand des Dirigenten, dem Darsteller bis in die kleinsten Abtönungen des Ausdrucks, leicht und ihm sich schmiegend, zu folgen, seine Worte und Gebärden zu illustrieren, zu tragen und noch zu haben [Anm. von Bungert: In den Düsseldorfer Festspielen erreichte dieses Kapellmeister Fröhlig in vorzüglicher Weise.].
Es wird zuträglich sein, das Orchester nach Notwendigkeit, der Akustik des Saales gemäß, teilweise zu decken.
Im Übrigen wird das Studium des Auszuges, mit der Partitur zur Hand und bei der Vertiefung in die Dichtung alles andere ergeben.
Nur über die Besetzung der Engel im Prolog im Himmel durch männliche Darsteller noch einige Worte [Anm. von Bungert: Hierüber wird demnächst ein größerer Aufsatz vom Verfasser erscheinen.].
Die bisherige Besetzung der Engel durch Frauenstimmen erscheint ein großer Irrtum. Die drei Gestalten sind hier gewissermaßen die Verkörperung der Gott untergebenen Naturgewalten, wie auch (trotz der Anschauung der Geschlechtslosigkeit der Engel) durch ihre Namen es angedeutet ist. In den darauf bezüglichen Bibelstellen ist durchaus nicht von der Weiblichkeit der Gestalten die Rede. Es sind hier gewissermaßen die dem Throne des höchsten Herrschers der Welten unterstellten Fürstenengel (s. v. w.), sie sind seinem Throne nahegestellt, sind Ausübende seiner Macht; sie entstammen nicht der Region der himmlischen Heerscharen, von denen Mephisto sagt „die Racker sind doch gar zu appetitlich.“ So dachte sich der Verfasser dieselben etwa auf das Schwert gestützt und gewappnet. Gesprochen erscheinen die unvergleichlichen Worte, von der Scene und Situation abgesehen, ohnehin schon zu gewaltig und breit, um auch nur annähernd ihrer Bedeutung gemäß Wirkung zu geben [Anm. von Bungert: Übrigens fand meine Auffassung auch in Düsseldorf die volle Zustimmung und den Beifall der Maler Jensen, Gebhard, Achenbach u. s. w.].
Daß durchweg in der Musik die Benutzung des Leitmotiv’s herrscht, daß dadurch viele Scenen eine eindringlichere Wirkung erreichen konnten, sei dem Urteil der aufmerksamen Zuhörer überlassen.
So wurde z. B. der Ostergesang als Motiv mehrfach angewandt, in der Beschwörung des Pudels im Studierzimmer [Anm. von Bungert: „Kannst du ihn lesen? / Den nie Ausgesprochenen.“] und insbesondere in der Schlußscene, da die Worte des Mephisto: „Sie ist gerichtet!“ und der Stimme von oben „Ist gerettet!“ als Gegensatz erklingend, gesprochen fast zu rasch und nicht eindringlich genug erscheinen dürften. Hier erschien die Benutzung des Ostergesanges des Chor’s der Engel:
„Christ ist erstanden!
Freude dem Sterblichen,
Den die verderblichen
Schleichenden, erblichen
Mängel umwandeln!“
als Unterlage für die Worte Gretchens:
„Dein bin ich Vater! Rette mich!
Ihr Engel! Ihr heiligen Scharen!“
mit dem Gedanken also des Opfertodes des Heilands für die sündige, reuige Menschheit, bei Gretchens Rettung, geradezu geboten. Abgesehen davon, daß dadurch im Werke, auch insbesondere in Goethe’schem Sinne glücklich „Anfang und Ende sich in Eins zusammenziehen“. Es lag nahe, daß das melodramatische Motiv zu den Worten im I. Teil:
„Werd’ ich zum Augenblicke sagen
Verweile doch, du bist schön!“
dasselbe sein mußte im II. Teil zu den Worten:
„Zum Augenblicke dürft’ ich sagen:
Verweile doch! Du bist so schön!“
Als interessante, durch die Leitmotive glücklich zusammengestellte, in Parallele gebrachte Scenen seien erwähnt die Raubscene (II. Teil) des Habebald und Eilebeute in des Kaisers Zelt und die des Erzbischofs mit dem Kaiser; wo dasselbe Leitmotiv in der Verlängerung in pathetischer Fassung erscheint.
Daß die Hälfte des V. Aktes des II. Teiles ganz für Musik gedacht ist, wer wollte das verkennen!
Bisher wurden die Worte des Mephisto mehr oder weniger mit Musik unterstrichen, d. h. es wurde versucht, seine Worte durch Musik noch teuflischer im Ausdruck zu machen und dennoch war es logisch hier, vom umgekehrten Standpunkt auszugehen, da er doch meistens während der ewig-rein aus himmlischer Sphäre erklingenden Engelschöre, dann sich ihm nahend, und ihn täuschend, spricht und daß gerade dadurch, während der reinen keuschen Gesänge, des Teufels Sprache und niedrig klingendes Organ am stärksten in Gegensatz dazu treten wird.
Die Schlußscene der ganzen Tragödie, ist in zwei Lesarten komponiert. De eine wird mit dem Chorus mysticus schließen, wie angegeben. Die andere Lesart bringt nach Schließung des Vorhanges den Gedanken zur Ausführung, daß das Publikum sich erhebt und die letzten Worte des Chorus, gleichsam als Bestätigung, als Bejahung des Gesehenen, Gehörten, Erlebten, singend wiederholt. Fast möchte es nach diesem Schauspiel ohnegleichen, nach dieser Menschheitstragödie psychologisch den Zuschauern als Bedürfniss erscheinen, gleichsam als antiker Chor die Worte des Chores zu wiederholen. Goethes Faust wird in dieser Form einer Tetralogie stets mehr oder weniger ein Festspiel, ein Bühnenweihespiel bleiben, während jeder Abend, einzeln aufgeführt, die Leistungsfähigkeit eines guten Theaters nicht übersteigt.
Düsseldorf, Juli 1903.
Aug. Bungert.
[Transkription: Christoph Hust]
August Bungert: Einführung zu „Hutten und Sickingen“ (1888)
August Bungert (1845–1915), der in den 1890er Jahren mit seiner Tetralogie „Homerische Welt“ auf den Opernbühnen Furore machte, schrieb und komponierte in den 1880er Jahren ein Festspiel „Hutten und Sickingen“ zur Aufführung in Bad Kreuznach. Er stellte ihm eine umfangreiche Einführung voran, die seinen Umgang mit dem Stoff rechtfertigte. Bungert griff dabei einerseits unverkennbar auf Wagners Theorie des Gesamtkunstwerks und seiner transformativen Kraft zurück, andererseits aber auch auf Hans Herrigs (ihrerseits teils auf Wagner, teils auf Schopenhauer fußenden) Theorien zum „Volkstheater“ als dem Gegenbild des „Luxustheaters“. Der resultierende Text ist bezeichnend für den kulturkonservativen Diskurs diese Jahre – im Anknüpfen an Wagner, in der Suche nach neuen Wegen (die Bungert, ähnlich wie Engelbert Humperdinck, zur Rehabilitierung des Bühnenmelodrams führte) und in seinem aus heutiger Sicht sehr irritierenden nationalen Pathos.
Hutten und Sickingen
Ein dramatisches Festspiel für das deutsche Volk
von August Bungert. Opus 40.
Berlin: Luckhardt 1888.
Zur Einführung.
Wer eine Geschichte Hutten’s schreibt, muß auch die von Sickingen schreiben; und wer den Sickingen auf die Bühne bringt, wird ihn mit Hutten erscheinen lassen. – Die Gestalten lassen sich nicht trennen. – Die Schicksale der einen oder anderen dieser beiden Gestalten beginnen da bedeutungsvoll, wahrhaft historisch im großen Sinne zu werden, wo die beiden Männer, ein jeder ausgereift in seiner Entwickelung, einander persönlich sich nähern. – Groß und tragisch wird die Laufbahn beider von diesem Augenblick an. – Es sind drei Jahre etwa, daß sie beide, ideale Ziele im Auge, – zusammengehen, streiten, kämpfen, – fallen. Im Hintergrunde steht die Gestalt Luthers. – Sein Leben, sein Werk ein großes Weltereigniß. – Hutten und Sickingen waren Mitkämpfer für den Gedanken! Wenn Luther’s Werk, man verzeihe den Vergleich, die elektrische Batterie ist, so ist Hutten der elektrische Funke, der in Sickingen einschlägt. –
Dem heutigen Dramatiker, den Plan zur Tragödie entwerfend, wird im vorliegenden Stoff vor allem das Weib fehlen. Wir haben keine überlieferte, sogenannte Liebesgeschichte, keine Episode derart, die brauchbar und zu verwerthen wäre. – Schiller hat im „Wallenstein“ seinem Helden Piccolomini einen Sohn gegeben. Hand auf’s Herz! Könnten wir wagen in das Wirken unserer Helden [II] eine Liebesgeschichte, als mittreibende Macht, hinein zu schieben? Nein und aber nein! Die grade offene Größe der Gestalten erträgt es auch kaum, und brächte man eine solche Episode hinzu, z. B. etwa eine Liebesgeschichte Schweickardt’s mit einer Trierer Bürgerstochter oder dgl., die den Konflikt noch verstärken könnte zwischen den beiden Parteien, so dürfte dieselbe doch nimmermehr auf die psychologische Entwicklung unserer beiden Helden Einfluß üben; sie dürfte nur nebenher gehen! Es handelt sich im jetzigen Zeitpunkt besonders darum, die Helden möglichst geschichtlich wahr darzustellen und keine Veranlassung zu Deutungen zu geben, als wären hier zu Gunsten politischer Motive die Helden anders vorgeführt, als sie wirklich waren!
So stehen wir also einmal wieder auf dem Standpunkte der Alten! Wir haben zwei Helden, deren Schicksal tragisch ist, ohne daß eine Liebesgeschichte, ohne daß ein Weib, daß die sinnliche Liebe in der Entwicklung der Tragödie eine Rolle spielte.
Großartig beide von Natur angelegt, spiegeln sie in ihren Worten und Thaten ein echtes Bild der Zeit. – Sie greifen mit in die Räder der Zeit und bringen sie vorwärts – indem sie fallen. – In ihrem Leben ist die Zeit gewissermaßen verkörpert, in ihrem Thun der Volks- und Zeitgedanke dargestellt. – Gedanken giebt’s, die Menschen werden! –
Ich bin im Drama streng der Geschichte gefolgt; die überhaupt vorhandenen Werke und Quellen weichen nur unwesentlich von einander ab. [Anm.: Daß Hutten vor Trier im Lager erscheint, ist historisch fraglich; d. h. man weiß es bis jetzt nicht, wo er zu jener Zeit sich aufhielt, möglich, daß spätere Forschungen uns noch darüber belehren werden.] – Wir haben also ein treues geschichtliches Bild der Helden und Zeit in Bezug auf ihre Thaten, ihren Handlungen, vor uns. – [III] Dem Dichter kommt es zu, tief in das Innere der Helden zu sehen und die geheimen Fäden klar zu legen, in denen die Keime ihrer Handlungen liegen.
Die Gestalt des landfahrenden, abenteuerlichen Doktor Faust, der in der Gier nach Wissen seine Seele dem Teufel Mephistophilis verschrieben, durfte sich der Dichter nicht entgehen lassen. Daß ein Doktor Faust auf den Schlössern des Vaters, Schweickardt von Sickingen, lebte, ist kaum zu bestreiten. – Fr. v. Schlegel sagt, daß ihn dieser wegen unsittlicher Handlungen entlassen habe. – Er soll um das Jahr 1480 in Knittlingen in Württemberg, dem Geburtsort Melanchthons, geboren und zu Staufen im Breisgau um 1540 gestorben sein. – Das Volksbuch „Faust“ erschien 1586. – Er ist in unserer Tragödie die Verkörperung des menschlichen Hanges, das Räthsel des Lebens und der Welt durch Forschungen in den Wissenschaften zu enthüllen – während in der Gestalt Luther’s der Vertreter des echten, christlichen Glaubens sich darstellt. So sind also diese beiden Gestalten gewissermaßen die am weitesten aus einander gehenden, sich gegenüberstehenden Träger von Ideen im Drama. –
* * *
Das Festspiel, obwol auf jeder heutigen Bühne mit dekorativer Zuthat ausführbar, ist zunächst für die denkbar einfachste Bühne, der altenglischen Shakespeare’schen Bühne sich nähernd, gedacht. [Anm.: Siehe z. B. Rudolf Genée über dieselbe.] – Aus dem Zuschauerraum führen etwa sieben Stufen zu dieser hinauf. – Die Bühne ist in drei Theile, eine Vorder-, Mittel- und Hinterbühne getheilt. Nur die beiden hinteren Bühnen erhalten Abschlüsse durch Vorhänge; die Vorderbühne bleibt frei. Die Hinterbühne hat nach der Mitte hin [IV] im Hintergrunde einen Balkon. Jeder Bühnentheil hat rechts und links Seiten-Ausgänge. –
Durch diese Einrichtung entgehen wir, neben anderen in die Augen springenden Vorzügen, bei häufigem Szenenwechsel, dem unaufhörlichen, die Illusion störenden Auf- und Niedergehen des einen Haupt-Vorhanges, wie wir es z. B. bei einer Aufführung eines Götz von Berlichingen oder mancher Stücke von Shakespeare ertragen müssen.
* * *
Bezüglich der Form des vorliegenden Werkes noch dieses: Gelingt es dem Dichter von Anfang an das Publikum, sagen wir das Volk zu fesseln, zu stimmen, hinzureißen, so wird es gerne im Verlauf der Handlung, ein Wort, wenn auch nicht mit drein reden, so doch mit drein singen, und so hätten wir in gewissem Sinn gleichsam den Anklang des antiken Chores im Volk selbst. – Das Gesangliche muß natürlich einstweilen auf einfache, womöglich im Volk schon bekannte Lieder beschränkt werden. Das Festspiel wäre vollkommen, wenn das Volk, theilnehmend am Geschick des Helden, gewissermaßen die Handlung des Drama’s mit erlebte, mit dem Helden sich freuend, mit ihm leidend; durch die Dichtung endlich sich erhebend, zu betrachtendem und handelndem Chor würde. –
Wir müssen also suchen, diese oben gezeichnete ideale Theilnahme des Publikums, des Volkes, zunächst durch einen vaterländischen Stoff, dann sowol durch den Aufbau des Stückes, durch die Erfindung der Szenen, wie die Durchführung derselben, zu erregen und festzuhalten, um ihm singend auch das Wort geben zu können.
* * *
Die höchste Steigerung des Mitempfindens ist in diesem Falle also: Mitsingen, Mithandeln. Der sprichwörtlich gewordene Ausdruck: „Das Volk spielte mit!“ ist bedeutungsvoll genug für jene Behauptung. Diese mitsingende Betheiligung des Volkes an dem Vorgang auf der Bühne wird nun in sehr verschiedener Art erreicht werden können. – Vielleicht zunächst durch Steigerung einer bejahenden Stimmung zu der Handlung auf der Bühne; sagen wir kurzweg durch die im Volk hervorgerufene Begeisterung. Hier werden grade nationale, patriotische Situationen, oder auch religiöse Auftritte, genug, solche Vorgänge, die das Volk als Volk, als gemeinsam sich empfindendes Ganze ergreifen, die ausgiebigsten sein. Den Versuch, beide Faktoren zusammen wirken zu lassen, bietet z. B. der erste Akt des vorliegenden Werkes und zwar sowol bei der Weihnachtsfeier, wie auch am Schluß, wo die nationale und religiöse Empfindung zugleich gesteigert werden, so daß das Volk schließlich mit den Helden auf der Bühne seinem Herzen Luft macht in dem Schlußliede.
Eine andere Art, die Mitbetheiligung im Gesang hervorzurufen, kann ferner die Furcht und das Mitleid bei einem Vorgange auf der Bühne erregen. Der Reflex des Geschauten, die unbewußte Betrachtung des eigenen Schicksals dem Geschehenden gegenüber kann zu betrachtendem Singen werden. Ein Beispiel ist bei uns der Liedeinsatz „Wer weiß, wie nahe mir mein Ende!“ nach der Fieberszene Hutten’s. [Anm.: In einem demnächst erscheinenden Werke rufen Entrüstung und Schrecken, Entsetzen bei einem Vorgange auf der Bühne die Gesangschöre im Volke hervor.]
Natürlich wird nicht in allen Fällen das Volk, das Publikum, diese Rolle übernehmen, sondern es kann [VI] ein Chor sein, der auf der Bühne, hinter der Bühne oder sonst wo im Saale aufgestellt ist. [Anm.: In Worms hat man eine Sängerbühne gegenüber der Bühne, also im Rücken des Publikums. Man lese die höchst interessanten Schriften meines Freundes Hans Herrig, wie die des tapfern Freundes deutscher Kunst Herrn Fried. Schön. Die Festspiele in Oberammergau, Rothenburg, wie das Herrig’sche Lutherfestspiel habe ich leider nicht gesehen.]
Im Nachspiele des vorliegenden Werkes tritt nun dieser Chor des Volkes, also das Volk selbst, gewissermaßen singend und handelnd auf. Die Worte Luther’s und Melancht[h]on’s führen die Größe der beiden Helden, ohne ihre Schwächen unberührt zu lassen, dem Volke noch einmal vor. Die Lehre, die wir schöpfen, ist die: Hand in Hand in Frieden zusammen zu gehen; und als Luther die Worte ausspricht: „Wir glauben all an einen Gott„, schreitet der Volkschor, das Lied singend, die Stufen der Bühne hinauf und bestätigt, sich neben Luther aufstellend, jene gesungenen Worte durch diese Handlung. [Anm.: Hier haben wir eine annähernde Aehnlichkeit mit dem Schreiten des griechischen Chors um den Altar.]
Und so wäre das fernere Hinaufschreiten des zweiten Chores und der Schlußgesang: „O heil’ger Geist kehr bei uns ein„, der noch durch die „bei Pfingstglockenklang“ aufziehenden Chöre der Palmen schwenkenden Kinder, gleichsam als Boten, die den Frieden verkündigen, verstärkt wird, ein in Handlung übersetztes, im Gegensatz zu Schwertesgewalt, gemeinsam gesungenes Bekenntniß zu dem allein wirkenden Worte, welches die That ist!
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Daß die Griechen außer dem Tanzreigen und der instrumentalen Begleitung des Chores oder Chorreigen noch öfter instrumentaler Fragmente in ihrer Tragödie hatten, ist wol zweifellos. Ja, wer weiß, wenn auch der instrumentale Körper nach unseren heutigen Begriffen ein noch so kärglicher und unbedeutender war, ob nicht die Melodie eines früher gesungenen Chores – der doch gewissermaßen als das verkörperte ethische Prinzip auftrat – in bedeutungsvollen Momenten, da wo die Schuld des Helden an diesem selbst sich rächte, – leise im Orchester gespielt wurde. Und so hätten wir das Leitmotiv im Chor, [Anm.: Daß die Dichtung der Chöre bei den Alten oft bekannten Melodieen untergelegt worden sind, ist kaum zweifelhaft. Vielleicht rühren manche dunkle Wendungen in den Chören des Aeschylos daher und die dunkle Sprache wäre an solchen Stellen nicht blos „sein Stil“.] eine künstlerische Handhabe, die ich indeß auch außer in meinem Musiklustspiel „Liebe Siegerin“ besonders in meiner Musiktragödie „Nausikaa„, so wie in „Odysseus Heimkehr“ mehrfach angewandt habe. [Anm.: „Ihr Götter gebet uns die Kraft / Das rechte Maß in Lust und Leidenschaft“ / und / „Frauenleben ist hienieden / Nur ein Kränzewinden.“ / siehe: dritter Abend m. Tetralogie „Homerische Welt“.] –
Es liegt auf der Hand, daß wir durch die Hinzuziehung der Musik im Drama (sagen wir im Melodrama) eine große Anzahl Stoffe, die als Wortdramen behandelt, nicht zu vollkommenen Kunstwerken sich entwickeln konnten, für die Bühne gewinnen. Eine Menge vorhandener Dramen, deren Existenz die Kritik als „opernhaft“ abthut, würden, von vornherein mit Musik organisch verbunden und aufgebaut, dauernde Kunstwerke geworden sein. Andere dramatische Werke, wie z. B. Faust, Calderon’s Leben ein Traum, Ueber allen Zauber Liebe, viele geistliche Schauspiele des Dichters, Kleist’s Kätchen, Die Jungfrau von [VIII] Orleans Schiller’s, Wilhelm Tell Schluß des IV. Aktes und V. Aktes, Shakespeare’s Sturm u. s. w. sind absolut mit Musik gedacht, die Werke sehnen sich nach Musik in vielen Situationen, ja fordern sie heraus und oft sind blos einige Akkorde im Orchester oder hinter der Szene gradezu von befreiender Wirkung auf den Zuschauer; jedenfalls heben sie die Situation ungemein oder auch können sie im andern Falle Gräßliches mildern. In der That haben Komponisten, beispielsweise: Mendelssohn im „Sommernachtstraum“ und Schumann im „Manfred“ durch Hinzuthun von Musik nahezu das Ideal erreicht, was wol dem Dichter vorschwebte. Hier erscheint die Zuthat in den meisten Fällen fast organisch mit dem Werk verwachsen; daß aber durch Hinzutreten des Chores in jener oben angegebenen Weise oder durch Mitwirkung geringer instrumentaler Mittel, wenn sie vom Autor des Werkes, das Werk schaffend, erfunden sind und organisch mit diesem verbunden auftreten, noch eine große Anzahl neuer Wirkungen erzielt werden können, unterliegt keinem Zweifel.
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Wir hätten somit gewissermaßen auf der einen Seite neben dem Wortdrama im Volksdrama mit Chor, das Melodrama mit Instrumentalmusik, letztere nicht blos als Zuthat betone ich nochmals, sondern als bedeutungsvoll mitredendes Organ. Dieses Melodrama wäre fähig, alle Stoffe zu behandeln. Es stünde als aus dem Volke hervorgegangen, in Berührung mit dem Volke geblieben durch dessen ideale Mitbetheiligung als Chor und könnte sehr wol der übertriebenen Kulissenzuthat entbehren, – ohne indeß dieselbe besonders in der Tiefe der Bühne bei geeigneter Szene ganz zu beseitigen.
[IX] Auf der anderen Seite steht das Musikdrama, das ich zum Unterschiede von jenem das Kunstdrama nennen möchte, das alle Anforderungen idealer Täuschung erfüllt. Sein Gebiet ist vor allem der Mythos und das Wunder, wie Wagner so schön entwickelt und in seinen Werken so herrlich ausgeführt hat. [Anm.: Stoffe wie z. B. Nathan der Weise werden nie Gegenstand des Musikdramas sein können.] Hier verlangen wir die bis zur idealen Naturwahrheit gesteigerte Inszenirung. Durch den Stoff schon dem Uebernatürlichen zugewandt, finden wir das gesungene Wort natürlich, während im Drama das Wort nur in höchsten Momenten gesteigerter Empfindung zum Gesang sich erhebt oder mit der Musik zusammen auftritt. Das gesungene Wort im Musikdrama und das Orchester sind gewissermaßen Seele und Herz des dramatischen Körpers. Daß wir deshalb den herrlichen Schatz unserer „Opern„, die in gewissem Sinne nach heutiger Anschauung, vom Standpunkte des Musikdramas aus betrachtet, nicht Werke reinen Stiles sind, nicht minder hochstellen, als bisher, ist natürlich. Auch die Musikdramen reinster Rasse würden Opern, wie Fidelio, Figaro, Zauberflöte, allein wegen ihres unendlich schönen, geklärten Musikgehaltes nicht todt machen. Ja, daß in unserer Zeit Werke wie Berlioz’ Benvenuto Cellini oder Cornelius’ Barbier von Bagdad, deren Texte nicht besonders bedeutend, nachdem sie nach 50 und 25 Jahren vom Scheintod erwacht sind, nun recht lebendig umherwandeln, ist ein bedeutungsvolles Zeichen. [Anm.: Schon vor etwa 12 Jahren habe ich lang und breit in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ für die Bühnenaufführung des letzteren Werkes geschrieben. Es erfolgte dann ein Jahr darauf in Hannover eine Aufführung, die erfolglos war. Auch Opern haben ihre Geschichte.] Und solcher Werke sind [X] gewiß noch mehr da, die die gerechte Zeit zu Tage fördern wird.
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Was nun die Darstellung anbelangt, so möchte ich behaupten, daß wir mindestens ebenso viel „Material“ im Volke haben, wie die Griechen es hatten. Gesangvereine, die auf der Bühne oder im Saale als zum Allgemeingesang anregend mitwirken würden, haben wir übergenug, und schauspielerisches Talent ist viel mehr im Volke vorhanden, als man gemeinhin glaubt. Im vorliegenden Werke würden sämmtliche Rollen, mit Ausnahme vielleicht der Hutten’s und Sickingen’s, in Händen von Dilettanten liegen. In vielen Städten führen Schüler der Gymnasien Tragödien von Sophokles auf; sämmtliche Rollen werden von den Schülern dargestellt. [Anm.: In Karlsruhe bestand bei einer Aufführung des Philoktet von Sophokles auch das begleitende Streichorchester aus Schülern des Gymnasiums.]
Hier bietet sich ein erfreuliches, reiches Feld wie kaum ein anderes für die Studenten in den Universitätsstädten.
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Der Dichter soll und muß sich endlich die Bühne auch in diesem Sinne, zu diesem Zwecke erobern. – Das historische Drama, das vaterländische Stück, das Festspiel, in welcher Form es sich auch bieten mag, muß zum Bedürfniß des Volkes werden.
„Möchte man aller Orten,“ sagt Schiller, „von dem Vorurtheile zurückkommen, daß theatralische Uebungen Personen von Stand und Ehre schänden! Gewiß würde dies den guten Geschmack allgemeiner verbreiten und die Empfindung des Schönen, Guten und Wahren [XI] durchgängig mehr beleben und verfeinern; sowie zugleich auch Schauspieler von Profession mit einem schärfern Wetteifer den Ruhm ihres Standes zu erhalten sich befleißigen würden!“
Die Sehnsucht Schillers hegen wir noch heute; seine hohe Anschauung von der sittlichen Bedeutung des Theaters ist, Gott sei Dank, die unsere; das Theater kann und soll erhebend und erziehend im Volke wirken: es wird es, indem wir es in innigere Beziehung mit diesem bringen. – Die Vergangenheit, die Geschichte des Volkes ist eines seiner heiligsten Güter. –
Hutten war wie der Adler, der zur Sonne fliegt und geblendet auf einen Felsen stürzt – um einsam seine lichtgierige Seele auszuhauchen. –
Sickingen ist gewissermaßen der kühne Schiffer, der auf dem wilden Meere der Zeit nach Land sucht; Sickingen war nicht ein Ritter, er war der Ritter, der letzte Ritter der alten, der erste Ritter der neuen Zeit! Selbst sein Jahrhundert stellte ihn unendlich viel höher als, es ist schlimm genug, es feststellen zu müssen, die heutige Zeit Bewußtsein von seiner Größe hat und das will viel sagen! –
Daher thut es Noth, dem deutschen Volke unsere beiden Helden zu zeigen, wie sie waren, damit es sie schätzen und ehren lernt. –
„Das Volk, das seine Helden nicht ehrt,
Das ist der Helden auch nicht werth!“
Pegli bei Genua.
Mai 1887.
August Bungert
[Transkription: Christoph Hust]