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August Bungert: Einführung zur „Faust“-Bühnenmusik (1903)

Nach den Aufführungen seiner Tetralogie „Homerische Welt“ wandte sich August Bungert sofort neuen Aufgaben zu. Vor dem Mysterium op. 60, einem Oratorium für Soli, Chor und Orchester, war Goethes „Faust“ sein erstes neues Projekt. Mit Bungerts Bühnenmusik wurde „Faust“ zur Tetralogie und zu einem postwagnerianischen „Bühnenweihespiel“, wie der Komponist es im umfangreichen Vorwort des Klavierauszugs darlegte.

Zur Einführung.

Im Auftrage des Rheinischen Goethe-Vereins, unter dem Protektorat Sr. Königl. Hoheit des Kronprinzen des deutschen Reiches und dem Vorsitze Sr. Excellenz des Ministers H. von Rheinbaben, frug im Februar dieses Jahres Max Grube, der Oberregisseur des Königl. Schauspielhauses zu Berlin, bei mir an, ob ich Zeit und Muße finden würde, bis zu Ende Mai eine neue Musik zu Goethe’s Faust zu komponieren.

Da ich eben mein Lebenswerk, die Musiktetralogie: Die Odyssee abgeschlossen hatte und längst der Plan in mir ruhte, an eine solche Arbeit heranzutreten, ohne daß indes eine Note dazu geschrieben war, so übernahm ich mit Freude und glühendster Begeisterung die Aufgabe.

In unbeschreiblicher Erregung wurde in etwa 7–8 Wochen die ganze Musik skizziert, Tag und Nacht daran geschrieben und bis zum festgesetzten Termin im Mai war die Instrumentation in der Hauptsache vollendet, die Klavierauszüge liefen in Korrekturabzügen bei den Proben ein, die Orchester- und Chorstimmen folgten bis in die letzten Tage vor den Erstaufführungen am 5., 6. und 7. Juli. [Anm. von Bungert: Allerdings rief die Überanstrengung der Augen eine starke lang andauernde Entzündung hervor.]

Manches konnte aus verschiedenen scenarisch-technischen Gründen nicht zur Aufführung kommen, doch im Ganzen wurde das Werk in 3 Abenden unter der Rollenbesetzung bedeutendster schauspielerischer Kräfte von Berlin und andern Hauptstädten Deutschlands in der von Max Grube eingerichteten Lesart, mit herrlichen Dekorationen von Georg Hacker, unter der vorzüglichen Leitung des Kapellmeister Fröhlig aufgeführt und fand in den 4maligen Cyklen der 3 Abende den begeistertsten Beifall des Publikums, das jeden Abend das Theater bis auf den letzten Platz gefüllt hatte. –

Einige Einführungsworte zu vorliegender Faust-Musik mögen gestattet sein.

Der I. Teil des Faust begann nach Vorausgang einer breiten Horn- und Trompeten-Fanfare mit dem Vorspiel auf dem Theater. Dann folgte das Ganze in der Original-Lesart bis zum Schluß mit einigen Strichen in der Walpurgisnacht; die Kürzungen mußten wegen mangelhaften scenischen Apparates stattfinden. Die Aufführung dauerte 6 Stunden, sodaß die Idee entstand, bei späteren Aufführungen den I. Teil auf 2 Abende zu verteilen; dann natürlich in breitester Weise die Walpurgisnacht zu bringen und zwar so, daß der 1. Abend mit der Hexenküche schließt und das Gretchen-Drama den 2. Abend bilden würde, während der II. Teil (auch in 2 Abende zerfallend), im 3. Abend mit der „Peneiosscene“ (Chiron, Faust, Manto) schloß, und dann im 4. Abend mit der Helena-Tragödie beginnend, bis zum Schluß des Werkes mit einigen Umstellungen und Strichen wieder möglichst die Goethesche Dichtung intakt ließ.

Von diesem Gesichtspunkt aus ist das Werk, wie vorliegend, anzusehen.

Durch die Einteilung des I. Teiles in 2 Abende ist es möglich, die einzelnen, oft sehr kurzen Scenen durch musikalische Zwischenspiele, die die vorhergehende Scene ausklingen lassen und in die folgende stimmungegemäß überleiten, zu verbinden. Es wird dadurch, abgesehen von der so erleichterten Verwandlung der Decoration, möglich sein, im Gemüt des Zuschauers die früher gesehene Handlung sich vertiefen zu lassen, und ihn halb traumhaft auf der Musikwelle in die Stimmung der folgenden Scene hinüberzutragen, sein Empfindungsvermögen von neuem spannend, ihn empfänglich zu machen, die Poesie der herrlichen Sprache ganz und voll zu genießen und in sich aufzunehmen.

Grade also eine ruhige, statt einer überhasteten Verwandlung der Scene, (wie dieses letztere bisher der Fall war), dürfte das Richtige sein; eine Musiküberleitung als Brücke von einer zur andern Scene, stets dem Inhalt beider Scenen gemäß. Man sehe sich als Beispiele die Gartenscene und Gartenhäuschenscene an; darauf folgend Wald und Höhle, Gretchen am Spinnrad, in Marthen’s Garten, Gretchen und Lieschen am Brunnen, Gretchen vor der Mater dolorosa, Zwinger und Valentinscene u. s. w.

Es sei nun hier gleich bemerkt, daß bei der Komposition, wie z. B. des Liedes: Gretchen am Spinnrad, der König in Thule, u. s. w. die idealste Besetzung gedacht ist, und daß nach Möglichkeit jeder Bühne den vorhandenen Darstellern gemäß sich einrichten wird.

Daß Goethe das ganze Werk gewissermaßen in Musik getaucht sich gedacht hat, geht aus unzähligen Stellen auf das evidenteste hervor. Auch stimmen darin wol sämtliche Kommentare überein. Sagt doch sogar der Dichter im II. Teil in der Euphorionscene: „Von hier an mit vollstimmiger Musik!“ [Anm. von Bungert: Wie gewaltig diese Scene in vorliegender Form wirkte, ersehe man aus den Berichten.] Er wünscht hier (und nun gar im Schlußakt des Werkes!) tatsächlich die Form der Oper. Des Näheren darauf einzugehen und dieses zu beweisen mag einem besonderen Aufsatz vorbehalten sein.

Es möchte, nebenbei bemerkt, in der ganzen dramatischen Litteratur kaum eine Gestalt geben, wo, wie bei der des Euphorion, in der Reihenfolge von Stimmungen und Scenen, das gesprochene Wort der innern Erregung gemäß so natürlich in das gesungene Wort übergeht; wo das Wort so zur Melodie sich gestaltet, gleichsam wie selbstverständlich; und wo ebenso natürlich und von sich selbst ergebend das gesungene Wort wieder in das gesprochene zurücktreten kann.

Man mag aus den kritischen Stimmen lesen, bis zu welcher gewaltigen, ergreifenden Wirkung sich dieser Akt in den Düsseldorfer Festaufführungen aufbaute.

Zum ersten Male findet man hier auch die 4teiligen Chöre am Schluß der Helena-Tragödie komponiert, beginnend mit dem Chore „Zurückgegeben sind wir dem Tageslicht“. Goethe hat zweifellos die Scene hier, nach dem erschütternden Akt, als ein Satyrspiel ähnliches Ausklingen sich gedacht. Daß bei richtiger glänzender Ausführung dieser Schluß bei Gesang und bacchantischem Tanz von grandioser Wirkung sein würde, ist zweifellos. Soll doch „an Prospekten und an Maschienen, an groß[en] und kleinen Himmelslichtern, Sternen, an Wasser, Feuern, Felsenwänden, an Tier und Vögeln nicht gespart werden – um mit bedächtiger Schnelle vom Himmel durch die Welt zur Hölle zu schreiten.

Ganz verkehrt aber erscheint es, die obigen Chöre in den wundervollen Poesie-Worten sprechen und dann mit etwa 16 Takten Musik, die die Scene musikalisch illustriert, jämmerlich nachhumpeln zu lassen. Dann ist es schon richtiger und dramatisch gewaltig wirksamer, gleich mit den Worten der Helena oder des Phorkias „Wir sehn uns wieder, weit gar weit von hier“, zu schließen.

In den überall eingestreuten Liedern galt es, (natürlich immer mit Berücksichtigung auf den darzustellenden Charakter und auch der betreffenden Situation), vor allen Dingen den Volkston zu treffen, den Goethe, wie auch Shakespeare in den eingelegten Liedern beabsichtigt hat [Anm. von Bungert: Daß Goethe im Lemurengesang einen andern Vers des Totengräberlieds im Hamlet (ein altes Volkslied) aufnahm, darf als bekannt vorausgesetzt werden.]. –

Wie weit nun das melodramatische Element im vorliegenden Material benutzt wird, steht dahin. Als Grundsatz stellte sich der Tondichter die Aufgabe, durchweg das Übersinnliche, Geheimnisvolle, das Spukhafte, Fantastische, das Erhabene, vielfach auch das Dämonische mit Musik zu begleiten; es wird natürlich ganz von der Regie eines jeglichen Theaters abhängen, das sich eignende aus der vorhandenen Fülle zu bringen oder auszulassen; ebenso mag an der Hand der Regie und des Kapellmeisters oft die Komposition einer Stelle (möglichst leise gespielt) melodramatisch benutzt werden.

Auf den ersten Blick wird man sehen, daß (und wol zum ersten Mal) die melodramatischen Stellen sämtlich so im Auszug eingetragen sind, daß zu jeder Zeile, ja bis aufs Wort, genau die Musik, Takt für Takt angegeben ist. Da ebenso genau der Text der Dichtung in die Partitur eingetragen ist, bleibt dem Darsteller durchaus seine völlige Freiheit eines hier und da rascheren Tempos; es liegt in der Hand des Dirigenten, dem Darsteller bis in die kleinsten Abtönungen des Ausdrucks, leicht und ihm sich schmiegend, zu folgen, seine Worte und Gebärden zu illustrieren, zu tragen und noch zu haben [Anm. von Bungert: In den Düsseldorfer Festspielen erreichte dieses Kapellmeister Fröhlig in vorzüglicher Weise.].

Es wird zuträglich sein, das Orchester nach Notwendigkeit, der Akustik des Saales gemäß, teilweise zu decken.

Im Übrigen wird das Studium des Auszuges, mit der Partitur zur Hand und bei der Vertiefung in die Dichtung alles andere ergeben.

Nur über die Besetzung der Engel im Prolog im Himmel durch männliche Darsteller noch einige Worte [Anm. von Bungert: Hierüber wird demnächst ein größerer Aufsatz vom Verfasser erscheinen.].

Die bisherige Besetzung der Engel durch Frauenstimmen erscheint ein großer Irrtum. Die drei Gestalten sind hier gewissermaßen die Verkörperung der Gott untergebenen Naturgewalten, wie auch (trotz der Anschauung der Geschlechtslosigkeit der Engel) durch ihre Namen es angedeutet ist. In den darauf bezüglichen Bibelstellen ist durchaus nicht von der Weiblichkeit der Gestalten die Rede. Es sind hier gewissermaßen die dem Throne des höchsten Herrschers der Welten unterstellten Fürstenengel (s. v. w.), sie sind seinem Throne nahegestellt, sind Ausübende seiner Macht; sie entstammen nicht der Region der himmlischen Heerscharen, von denen Mephisto sagt „die Racker sind doch gar zu appetitlich.“ So dachte sich der Verfasser dieselben etwa auf das Schwert gestützt und gewappnet. Gesprochen erscheinen die unvergleichlichen Worte, von der Scene und Situation abgesehen, ohnehin schon zu gewaltig und breit, um auch nur annähernd ihrer Bedeutung gemäß Wirkung zu geben [Anm. von Bungert: Übrigens fand meine Auffassung auch in Düsseldorf die volle Zustimmung und den Beifall der Maler Jensen, Gebhard, Achenbach u. s. w.].

Daß durchweg in der Musik die Benutzung des Leitmotiv’s herrscht, daß dadurch viele Scenen eine eindringlichere Wirkung erreichen konnten, sei dem Urteil der aufmerksamen Zuhörer überlassen.

So wurde z. B. der Ostergesang als Motiv mehrfach angewandt, in der Beschwörung des Pudels im Studierzimmer [Anm. von Bungert: „Kannst du ihn lesen? / Den nie Ausgesprochenen.“] und insbesondere in der Schlußscene, da die Worte des Mephisto: „Sie ist gerichtet!“ und der Stimme von oben „Ist gerettet!“ als Gegensatz erklingend, gesprochen fast zu rasch und nicht eindringlich genug erscheinen dürften. Hier erschien die Benutzung des Ostergesanges des Chor’s der Engel:

„Christ ist erstanden!

Freude dem Sterblichen,

Den die verderblichen

Schleichenden, erblichen

Mängel umwandeln!“

als Unterlage für die Worte Gretchens:

„Dein bin ich Vater! Rette mich!

Ihr Engel! Ihr heiligen Scharen!“

mit dem Gedanken also des Opfertodes des Heilands für die sündige, reuige Menschheit, bei Gretchens Rettung, geradezu geboten. Abgesehen davon, daß dadurch im Werke, auch insbesondere in Goethe’schem Sinne glücklich „Anfang und Ende sich in Eins zusammenziehen“. Es lag nahe, daß das melodramatische Motiv zu den Worten im I. Teil:

„Werd’ ich zum Augenblicke sagen

Verweile doch, du bist schön!“

dasselbe sein mußte im II. Teil zu den Worten:

„Zum Augenblicke dürft’ ich sagen:

Verweile doch! Du bist so schön!“

Als interessante, durch die Leitmotive glücklich zusammengestellte, in Parallele gebrachte Scenen seien erwähnt die Raubscene (II. Teil) des Habebald und Eilebeute in des Kaisers Zelt und die des Erzbischofs mit dem Kaiser; wo dasselbe Leitmotiv in der Verlängerung in pathetischer Fassung erscheint.

Daß die Hälfte des V. Aktes des II. Teiles ganz für Musik gedacht ist, wer wollte das verkennen!

Bisher wurden die Worte des Mephisto mehr oder weniger mit Musik unterstrichen, d. h. es wurde versucht, seine Worte durch Musik noch teuflischer im Ausdruck zu machen und dennoch war es logisch hier, vom umgekehrten Standpunkt auszugehen, da er doch meistens während der ewig-rein aus himmlischer Sphäre erklingenden Engelschöre, dann sich ihm nahend, und ihn täuschend, spricht und daß gerade dadurch, während der reinen keuschen Gesänge, des Teufels Sprache und niedrig klingendes Organ am stärksten in Gegensatz dazu treten wird.

Die Schlußscene der ganzen Tragödie, ist in zwei Lesarten komponiert. De eine wird mit dem Chorus mysticus schließen, wie angegeben. Die andere Lesart bringt nach Schließung des Vorhanges den Gedanken zur Ausführung, daß das Publikum sich erhebt und die letzten Worte des Chorus, gleichsam als Bestätigung, als Bejahung des Gesehenen, Gehörten, Erlebten, singend wiederholt. Fast möchte es nach diesem Schauspiel ohnegleichen, nach dieser Menschheitstragödie psychologisch den Zuschauern als Bedürfniss erscheinen, gleichsam als antiker Chor die Worte des Chores zu wiederholen. Goethes Faust wird in dieser Form einer Tetralogie stets mehr oder weniger ein Festspiel, ein Bühnenweihespiel bleiben, während jeder Abend, einzeln aufgeführt, die Leistungsfähigkeit eines guten Theaters nicht übersteigt.

Düsseldorf, Juli 1903.

Aug. Bungert.

[Transkription: Christoph Hust]


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