Leonhard Summerer
Oskar Kokoschka und Ernst Krenek – Orpheus und Eurydike
Heute kennt man Oskar Kokoschka vor allem als Maler. Viele seiner anderen Werke – insbesondere seine literarischen – sind hingegen fast in Vergessenheit geraten, so auch sein Drama Orpheus und Eurydike, das er 1918 vollendete. Dessen Entstehung ist eng mit Kokoschkas ehemaliger Geliebter Alma Mahler verknüpft, mit der er von 1912 bis 1914 liiert war. Nach der Trennung zog er als Soldat freiwillig in den Ersten Weltkrieg und wurde schwer verwundet. Während seiner Rekonvaleszenz – quasi im Delirium – begann er 1915 mit der Arbeit an Orpheus und Eurydike und verarbeitete damit sowohl seine Kriegserlebnisse als auch die Trennung von Alma Mahler.[1]
Wieso aber schrieb der gelernte Maler Kokoschka überhaupt? Ernst Krenek gab folgende Antwort:
»Er ist Maler, und als solcher berühmt und groß geworden […] Aber er ist nicht Maler von Beruf, im ausschließlichen Sinne des Handwerks. Er ist ein künstlerischer Mensch mit visueller Hauptbetonung. Sein Beruf ist nicht, mit dem Pinsel Leinwand zu bemalen, sondern die Welt mit dem Auge zu erleben und zu gestalten. Einmal wird es ein Bild, einmal ein Drama und ein anderes Mal gelebtes Leben. […] Ich kann mir gut vorstellen, daß er etwa überhaupt aufhört zu malen, ganz etwas anderes treibt und eigentlich gar nicht richtig merkt, daß er seinen Schwerpunkt verschoben hat.«[2]
In Orpheus und Eurydike beschäftigte sich Kokoschka mit dem Orpheus-Mythos, indem er ihn psychoanalytisch, expressionistisch und autobiografisch interpretierte und neu erzählte.[3] Indem er den Mythos um Orpheus mit dem um Amor und Psyche verknüpfte, erzeugte er zwei parallele Handlungsstränge.[4] Zu Beginn der Handlung sind Orpheus und Eurydike noch glücklich vereint, ein bevorstehendes Unglück deutet sich allerdings schon an. Drei Furien locken Psyche, die Eurydikes Tür bewacht, fort, um Eurydike für sieben Jahre zu Hades in die Unterwelt zu holen. Eurydike wehrt sich, ist andererseits aber auch versucht zu gehen. Schließlich verlässt sie Orpheus. Erst drei Jahre später macht er sich auf, sie zurückzuholen. Eurydike hat ihn da jedoch schon vergessen. Hades’ Bedingung für ihre Rückkehr lautet:
»Wenn Du nicht die Augen wendest,
nicht sie ängstigst mit Vergang’nem,
kehrt zurück Bewußtsein, das Eurydike entwichen!«[5]
Das Zurückblicken, im klassischen Mythos als Umsehen verstanden, wird hier zum Rückblick auf die Vergangenheit umgedeutet.[6] Die Rückkehr ist von Orpheus’ Misstrauen bezüglich Eurydikes Aktivitäten in der Unterwelt geprägt. Während der Fahrt auf einem Schiff kann er sich nicht mehr beherrschen und befragt Eurydike nach ihrer Vergangenheit. Sie bekennt, Hades’ Geliebte gewesen und von ihm schwanger zu sein. Von Orpheus’ Umblicken verletzt, entschließt sie sich, in die Unterwelt zurückzukehren.
Jahre später, in einem Niemandsland zwischen Leben und Tod, ereignen sich Gewaltszenen und bacchantische Tänze. Mittendrin ist der inzwischen ›verrückte‹ Orpheus, der bald darauf ermordet wird. Sein Geist trifft auf den Eurydikes; in einem letzten Gespräch können beide sich nicht vergeben. Als letzten Ausweg tötet Eurydike Orpheus nochmals. Psyche hat indessen ihre Schuld gegenüber Eurydike und Amor gebüßt und ist wieder mit Amor vereint. Beide segeln Richtung Sonnenaufgang.
Kokoschkas Drama greift Motive des Orpheus-Mythos auf und interpretiert sie auf eigene Art und Weise. Anders als in vielen anderen Fassungen ist die Liebe von Orpheus und Eurydike nicht gefestigt, nicht idealtypisch, sondern eine im modernen Sinne ›realistisch‹ dargestellte Liebe mit allen Höhen und Tiefen. Orpheus und Eurydike lieben sich innig, es gibt aber auch Zweifel und schwankende Gefühle, die sich zu einer »Hassliebe«[7] entwickeln. Krenek beschreibt diese Dynamik folgendermaßen:
»In dieser Szene [vor dem Besteigen des Schiffs] wird besonders deutlich, was mir Kokoschka einmal sagte, daß nämlich in den beiden Hauptakteuren des Dramas ein ständiger Widerstreit von positiven und negativen Lebenskräften herrsche, die in ihrer Intensitätssumme wohl konstant sind, sich aber nie die Waage halten. Sobald der eine von beiden hoffnungsvoll und lebensbejahend dem anderen entgegenkommt, wicht der andere zurück, und umgekehrt. Darin liegt auch das tief Erschütternde und im neuen Sinn Tragische des Schicksals dieser zwei Menschen, die einander unbedingt zugehören und einander tief und wahrhaft lieben und trotz der aufreibendsten Anstrengungen nie zueinanderkommen, ohne daß eine Schuld im moralisch-ethischen Sinne aufzuweisen wäre.«[8]
Nur die Götter Amor und Psyche verbindet eine »reine Liebe«.[9] Der Hauptgrund für die problematische Liebesbeziehung von Orpheus und Eurydike ist die Neugierde. Sie tritt bei Orpheus als Misstrauen gegen Eurydike auf; er ist zu neugierig, um die Geschehnisse in der Unterwelt auf sich beruhen zu lassen. Sein Misstrauen kommt aber nicht von ungefähr, denn auch Eurydike ist neugierig; bei ihr tritt Neugierde als Wunsch nach Veränderung auf, als Sehnen nach dem Unbekannten, als Versuchung.[10] Das Motiv ›Leben und Tod‹ taucht auch bei Kokoschka auf: Eurydike stirbt zu Beginn aus Neugierde; nach ihrer Rettung bringt Orpheus sie um, weil sie zurück in die Unterwelt möchte. Zum Ende hin provoziert Orpheus seinen eigenen Tod, der so quasi zum Suizid wird, und wird schließlich nochmals von Eurydike getötet, weil beide keine Ruhe finden. Beide Hauptpersonen sterben also mehrere Tode aus verschiedenen Gründen – Neugierde, Wahn und Erlösung.
Wie kann man Kokoschkas Fassung des Mythos interpretieren? Neben einer autobiografischen Lesart bieten sich zwei weitere Deutungen an, eine expressionistische und eine psychoanalytische.[11] Das Drama entstand in der Blütezeit des Expressionismus; Kokoschka wird dieser Strömung sowohl als Maler als auch als Schriftsteller zugeordnet.[12] Im Drama werden ›expressionistische‹ Themen wie Liebe, Hass und Wahnsinn verarbeitet. Kernelement des Expressionismus ist, eigene Erlebnisse und Gefühle auszudrücken. Kokoschka geht dabei so weit,
»daß er ganze Sätze, die im wirklichen Leben gesprochen wurden, in sein Drama herüber nimmt, weil ihm nicht die künstlerische Vorstellung, sondern die unmittelbare Lebendigkeit in diesem Augenblick die Hauptsache ist. So ergibt das Gesamtbild des Werkes ein verwirrendes Nebeneinander von lyrischer Zartheit, grandioser Dramatik, scheinbarer Banalität, von beinahe unverständlich Persönlichem«.[13]
Kokoschkas Orpheus und Eurydike lässt sich aber auch psychoanalytisch interpretieren: als »psychologische Innenschau«,[14] bei der die Geschehnisse von unterbewussten Handlungen motiviert sind. Sie tauchen sowohl bei Eurydike (Verlangen, Versuchung, unterbewusste Erkenntnisse) als auch bei Orpheus (Neugierde, Misstrauen) auf. Wie bereits angedeutet, hat Kokoschka persönliche Erlebnisse verarbeitet; das Drama lässt sich autobiografisch interpretieren. Da sind seine Kriegserlebnisse, seine Verwundung, seine Nahtoderfahrung und seine Zeit im Delirium, die sich vor allem in Orpheus’ Existenz zwischen Leben und Tod während des dritten Aktes niederschlagen. Andererseits spiegelt sich die Trennung von Alma Mahler deutlich wider. Nach einer schlüssigen allegorischen Deutung[15] steht Orpheus hierbei für Kokoschka, Eurydike für Alma Mahler, Psyche für Kreneks zwischenzeitige Frau Anna Mahler und Hades für den übermächtigen Gustav Mahler. Kokoschka liebt Alma und verliert sie, weil sie sich nicht binden will und sich nach Veränderung sehnt. Er ist übertrieben anhänglich, fast obsessiv besitzergreifend, wodurch sie sich von ihm eingeengt fühlt.
Viele dieser Motive finden sich im Drama wieder. Ein für die Handlung bedeutsamer goldener Ring, der Orpheus und Eurydike zuerst vereint und schließlich trennt, trägt die Inschrift
ALLOS MAKAR
Das ist ein (etwas ungenaues) Anagramm von »Oskar« und »Alma« – ein weiterer Aspekt, der die autobiografische Interpretation stärkt.[16]
Insgesamt gesehen interpretiert Kokoschka den Mythos als doppelte Liebesgeschichte. Dabei ist die Liebe zwischen Orpheus und Eurydike von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil beide keine Entwicklung vollziehen und die anfangs kleinen Probleme am Schluss dieselben Probleme in groß sind. Beide verbindet keine ideale Liebe, sondern – wie sich im Laufe des Dramas herausstellt – eine Hassliebe. Die wahre, ideale Liebe bleibt den mystischen Figuren Amor und Psyche vorbehalten und wird so zum mythologischen Topos.[17]
Nach der Uraufführung von Orpheus und Eurydike im Jahre 1921 als Schauspiel ohne Musik machte sich der Autor auf die Suche nach einem Komponisten. 1922 wurde er in dem damals 22jährigen Ernst Krenek fündig. Dieser schloss die gleichnamige Oper im Jahre 1923 ab, ein Jahr vor seiner Heirat mit Anna Mahler. Die Uraufführung folgte allerdings erst 1926 in Kassel. Krenek selbst schrieb in seiner Autobiographie:
»Die Musik, mit der ich dieses Opus ausstattete, gehört zweifellos zu den bedeutendsten Werken, die ich je komponiert habe.«[18]
Trotzdem blieb der Oper der Erfolg verwehrt, woran auch Kreneks ein Jahr später uraufgeführte Jazz-Oper Jonny spielt auf mit ihrem überwältigendem Erfolg Schuld trug.[19] – Wie verarbeitet Krenek Kokoschkas Drama? Laut Krenek sei das ganze Stück ohne Musik undenkbar,[20] andererseits könne es sein, dass die Musik die ohnehin schwer zu verstehende Sprache noch schwerer verstehbar mache. Deswegen solle ihre Aufgabe sein, Sprache und Handlung gefühlsmäßig zu unterstützen, sie (im Wortsinne) selbstverständlich zu machen und dramatisch wichtige Situationen zu unterstreichen.[21] In diesem Sinne folgt Krenek Richard Wagners Konzeption der Rolle der Musik im Musikdrama.[22] Die Oper ist szenisch komponiert und durch wiederkehrende Motive verbunden. Sie sind aber keine Leitmotive im Sinne Wagners, da sie mehr architektonische als Ausdrucks-Bedeutung haben;[23] so taucht beispielsweise ein aus den Töne d, e und a geschichteter Klang an vielen entscheidenden Stellen (u. a. als erster und letzter Klang der Oper) auf. Die Oper ist in einem eklektischen Personalstil geschrieben, geprägt von Folgen des Expressionismus und der Frühzeit der ›Neuen Sachlichkeit‹, der Harmonik Claude Debussys und Gustav Mahlers sowie atonalen Passagen.[24] Krenek selbst hielt Klassifikationsversuche weder für möglich noch für sinnvoll.[25]
Kokoschkas Drama eröffnete eine neue Sichtweise auf den Orpheus-Stoff, indem es die Beziehung zwischen Orpheus und Eurydike näher betrachtet und ihre Motivationen aufdeckt. Krenek schafft es, diese Feinheiten musikalisch differenziert umzusetzen und so den Text besser verständlich zu machen. Gleichzeitig verliert sich die Oper nicht in Details, sondern spannt einen großen dramaturgischen Bogen über das Stück. Unter diesen Gesichtspunkten scheint es nicht nur verwunderlich, sondern auch bedauerlich, dass beide Werke in Vergessenheit geraten sind.
Quellen und Literatur
Christian Baier, Der ausweglose Mythos. Zu Kreneks »Orpheus und Eruydike«, in: Neue Zeitschrift für Musik 170, 2003, S. 20f.
Oskar Kokoschka, Schriften 1907–1955, hrsg. von Hans Maria Wingler, München 1956.
Ernst Krenek, Im Atem der Zeit. Erinnerungen an die Moderne, Hamburg 1998.
Jürg Stenzl, Ernst Krenek, Oskar Kokoschka und die Geschichte von Orpheus und Eurydike, in: Ernst Krenek Studien 1, 2005.
Anmerkungen
[1] Jürg Stenzl, Ernst Krenek, Oskar Kokoschka und die Geschichte von Orpheus und Eurydike, S. 54 und S. 57.
[2] Ebd., S. 132.
[3] Vgl. Christian Baier, Der ausweglose Mythos, S. 20.
[4] Vgl. Ernst Krenek, Im Atem der Zeit, S. 615f.
[5] Oskar Kokoschka, Schriften 1907–1955, S. 257.
[6] Vgl. Jürg Stenzl, Ernst Krenek, Oskar Kokoschka und die Geschichte von Orpheus und Eurydike, S. 72f.
[7] Christian Baier, Der ausweglose Mythos, S. 21.
[8] Jürg Stenzl, Ernst Krenek, Oskar Kokoschka und die Geschichte von Orpheus und Eurydike, S. 135f.
[9] Christian Baier, Der ausweglose Mythos, S. 21.
[10] Vgl. Jürg Stenzl, Ernst Krenek, Oskar Kokoschka und die Geschichte von Orpheus und Eurydike, S. 82.
[11] Vgl. Ernst Krenek, Im Atem der Zeit, S. 386.
[12] Vgl. Jürg Stenzl, Ernst Krenek, Oskar Kokoschka und die Geschichte von Orpheus und Eurydike, S. 109.
[13] Ebd., S. 132 f.
[14] Vgl. Christian Baier, Der ausweglose Mythos, S. 20.
[15] Vgl. Jürg Stenzl, Ernst Krenek, Oskar Kokoschka und die Geschichte von Orpheus und Eurydike, S. 57.
[16] Vgl. Ernst Krenek, Im Atem der Zeit, S. 386f.
[17] Vgl. Christian Baier, Der ausweglose Mythos, S. 21.
[18] Ernst Krenek, Im Atem der Zeit, S. 387f.
[19] Vgl. Jürg Stenzl, Ernst Krenek, Oskar Kokoschka und die Geschichte von Orpheus und Eurydike, S. 14.
[20] Vgl. ebd., S. 139.
[21] Vgl. ebd., S. 139f.
[22] Vgl. ebd., S. 18.
[23] Vgl. ebd., S. 143f.
[24] Ebd., S. 18.
[25] Vgl. ebd., S. 144.