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Franz Brendel: „Das Kunstwerk der Zukunft“ (1853) – Teil 1

1853, nach den ersten kritischen Anmerkungen von Joachim Raff zum Konzept des Gesamtkunstwerks, veröffentlichte Franz Brendel in der Neuen Zeitschrift für Musik eine Artikelserie Die bisherige Sonderkunst und das Kunstwerk der Zukunft. Diese erste Erläuterung von Wagners Ideen erweiterte er kurz darauf zu einem eigenen Buch. Der Text gibt einen Eindruck in die Anfangszeit der kritischen Wagner-Diskussion in der musikalischen Fachpresse der 1850er Jahre. – Die Transkription erfolgte im Rahmen eines Hauptseminars an der HMT Leipzig von Eva-Maria Meinhardt.

Franz Brendel: Die bisherige Sonderkunst und das Kunstwerk der Zukunft

[Teil 1: NZfM 28, Nr. 8, 18. Februar 1853. Transkription: Eva-Maria Meinhardt]

[77] Als der größte und folgenreichste Gedanke Wagner’s, als der Mittelpunkt seiner gesammten Anschauung erscheint die Idee des Kunstwerkes der Zukunft. So Folgenschweres ist darin enthalten, daß eine neue Welt sich vor uns aufthut, eine Wendung ist damit bezeichnet, welche dem gesammten Kunstschaffen weiterhin eine durchaus veränderte Gestalt verleihen wird.

Es darf nicht auffallen, daß ein Gedanke, welcher bestimmt ist die künstlerischen Fragen der Gegenwart und Zukunft zu lösen, anfangs mit Befremden, ja mit dem heftigsten Widerstreben aufgenommen wurde. Die Bedeutung desselben war dem allgemeinen Bewußtsein noch so wenig aufgegangen, daß der erste Eindruck nur der eines gewaltigen Erstaunens sein konnte. Allen in den bisherigen Vorstellungen Festgebannten erschien die Idee einer Vereinigung der Künste als ein unausführbares Hirngespinnst. Die wunderlichsten Vorstellungen wurden ausgesprochen, die seltsamsten Mißverständnisse darüber durch die Presse verbreitet. Die Vertreter der Sonderkunst aber, tiefer blickend, wehrten sich, in dem richtigen Bewußtsein, daß das Kunstwerk der Zukunft die bisherige Isolierung, jenes Streben einer jeden Kunst, sich auf Kosten der anderen zu erheben, vernichtet.

Schon ist indes eine Wendung eingetreten, schon hat der ununterbrochene fortgeführte Kampf einen sehr bemerkbaren Umschwung herbeigeführt. Auch jetzt zwar ist man noch weit entfernt von einem sicheren Verständniß, und die verschiedensten, widersprechendsten Auffassungen werden kund gegeben. Selbst bei denen, welche von der Wahrheit des Grundgedankens überzeugt sind, selbst bei den inniger Vertrauten finden sich noch sehr viele Differenzen, und es ist kaum zu viel gesagt, wenn man annimmt, daß bezüglich des Specielleren überhaupt noch keine Einheit der Ansicht vorhanden ist. Insbesondere ist es eine abweichende Meinung, welche allgemein ausgesprochen, unsere besondere Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Den Meisten erscheint in dem Kunstwerk der Zukunft die Vereinigung der Künste zu sehr bevorzugt, die besondere Existenz derselben aber, die sie zu wahren wünschen, ganz vernichtet. Sie anerkennen den Fortschritt, der in der Vereinigung enthalten ist, glauben aber daneben ein isoliertes Bestehen der einzelnen Künste festhalten zu müssen. Man ist empfänglicher geworden für die Idee einer Hingabe an das Ganze, kann sich aber mit einem völligen Aufgeben des Einzelnen an dasselbe nicht befreunden. Auch in dem [78] Aufsatz, welcher zu den gegenwärtigen Erörterungen den äußeren Anstoß gegeben hat, in der Mittheilung J. Raff’s in der vorigen Nr. dieser Bl., wird etwas Aehnliches ausgesprochen, auch hier begegnen wir einer Wahrung der angeblichen Rechte der Sonderkunst! –

Auch jetzt demnach ist man noch weit entfernt von einer Einigung der Ansichten! Das aber ist gewonnen, daß das anfängliche Befremden überwunden ist. Das Terrain wurde erobert, die Grundlage für das neue Gebäude errungen. Die Ueberzeugung von der Größe und Tragweite des Gedankens ist allmälig der Ahnung aufgegangen. Man fühlt daß eine reiche Welt der Erkenntnis und des künstlerischen Schaffens entdeckt ist, man ist willig den näheren Berichten über dieselbe die Aufmerksamkeit zuzuwenden. Insbesondere haben wir Ursache mit den Musikern zufrieden zu sein, da die Begabteren derselben, nachdem die ersten Kämpfe vorüber, in ihrer Mehrzahl schon um das neue Panier sich zu schaaren beginnen, während die Schriftsteller in der Regel noch mit weit größerer Starrheit an den bisherigen Vorstellungen festhalten. Was Musik und speciell die Oper betrifft, sind freilich auch die Erfahrungen besonders schlagend. Das Schicksal aller neueren deutschen Opern, der regelmäßige Fall derselben, wenn sie überhaupt irgendwo zur Aufführung kamen, und im Gegensatz hierzu die Begeisterung für Wagner’s Werke an allen den Orten, wo man durch entsprechende Darstellung zu näherer Vertrautheit gelangte, müssen dem Befangensten die Augen öffnen, und die Ueberzeugung erwecken, daß wir auf dem bisherigen Wege nicht mehr weiter gelangen können.

Es kommt daher jetzt darauf an, die genauer eingehende Erörterung zu beginnen; es ist jetzt der geeignete Moment, den Kernfragen näher zu treten, es ist die Aufgabe, die divergirenden Meinungen durch die richtige Auffassung der Sache zu einen. Dabei bin ich weit entfernt, schon jetzt etwa die hierher gehörigen Untersuchungen abschließen zu wollen; es ist im Gegentheil der Zweck dieses Aufsatzes, die Debatte anzuregen.

Zunächst und hauptsächlich liegt die Ursache der zur Zeit noch so sehr auseinandergehenden Auffassungen in dem Umstand, daß die Frage nach dem Verhältniß der Einzelkunst zum Gesammtkunstwerk überhaupt noch nicht zur Erörterung gekommen ist. Anderseits trägt vielleicht auch die Darstellung Wagner’s einige Schuld, eine Schuld jedoch, für die er durchaus nicht verantwortlich zu machen ist. Auch meiner Ansicht nach hat Wagner das Gesammtkunstwerk etwas zu sehr accentuirt und ist – jedoch nur scheinbar, wie sich später zeigen wird – den einzelnen Künsten etwas zu nahe getreten. Ich finde dies indeß so natürlich, daß ich mich wundern würde, wenn es anders wäre. Wagner spricht als Entdecker und muß darum allen Nachdruck auf seine Idee legen, schon aus dem subjectiven Grunde, weil diese ihn am meisten erfüllt, abgesehen von dem anderweiten Umstand, daß solche Schroffheit nothwendig ist, wenn einem Neuen überhaupt Folge gegeben, wenn dasselbe in seiner Bedeutung hervortreten soll. Hierzu kommt, daß das Kunstwerk der Zukunft der abgeschlossenen Entwicklung der Einzelkünste gegenüber jetzt das unendlich Wichtigere ist. Die besondere Existenz derselben muß dagegen so untergeordnet erscheinen, daß diese Seite in einer ersten Darstellung der Sache nothwendiger Weise zurücktreten muß.

Vergegenwärtigen wir uns zuerst den Grundgedanken des Kunstwerkes zu Zukunft. Das getrennte Bestehen der einzelnen Künste war bisher berechtigt, die geschichtliche Entwicklung hatte dasselbe mit Nothwendigkeit herbeigeführt. Es ist Großes und Herrliches innerhalb dieser Isolierung erreicht worden, die einzelnen Künste haben ihre höchste Wirkungsfähigkeit entfaltet. Dem ohngeachtet ist diese Entwicklung nur ein umfassender Durchgangsmoment gewesen, bestimmt eben, die einzelnen Künste bis zu dem höchsten Grad ihrer Leistungsfähigkeit zu steigern. Das Ziel ist eine Wiedervereinigung, schon gegeben in Griechenland und jetzt wieder zu erreichen auf höherer Stufe und mit unendlich reicheren Mitteln. Der weitere Fortgang kann jetzt deshalb nur darin bestehen, daß die Einzelkünste, wie sie bisher um den Vorrang stritten und auseinander strebten, jetzt in gegenseitiger Liebe und Bescheidenheit sich nähern, sich je nach Bedürfniß einander unterordnen, zu einem Ganzen sich einen. Das Gesammtkunstwerk erscheint demnach als das alle bisher getrennten Elemente in sich befassende und einende, die darin ihren Untergang, aber zugleich ihre Auferstehung und Verklärung finden. Das Gesammtkunstwerk, das Drama, ist die Kuppel, welche sich über dem Ganzen wölbt, es ist das Größte und Mächtigste, und wenn bisher die Sonderkunst die gewaltigsten Wirkungen hervorbrachte, so verschwinden diese vor dem allumfassenden Eindruck, den die Totalität der Künste hervorzurufen im Stande ist.

Mit den Schriften Wagner’s Vertraute kennen seinen Ausgangspunkt, den er vom griechischen Drama nimmt, wissen, wie derselbe durch die Betrachtung der weiteren geschichtlichen Entwicklung der Künste die Nothwendigkeit des Kunstwerks der Zukunft deducirt.

Der griechischen Welt trat die christliche als Gegensatz gegenüber, in ihrer frühesten Gestalt einseitig wie jene, bestimmt das andere Extrem zur Geltung [79] zu bringen. Erblicken wir dort die Herrschaft des Natürlichen, so hier einen ausschließlichen Spiritualismus; dort ist die sinnliche, reale Welt die Basis, hier ein Reich des Geistes, nicht von dieser Welt, das zunächst eine negative Stellung gegen die frühere Stufe einnimmt. Seit einer Reihe von Jahrhunderten schon ist deshalb das Bestreben mehr und mehr hervorgetreten, diese beiden einseitigen Weltgestalten in einer höheren, dritten aufgehen zu lassen. Wir sehen, wie die neuere christliche Welt darauf hinarbeitet, die frühere Einseitigkeit zu ergänzen, den griechischen Standpunkt wieder in sich aufzunehmen, die errungene innere Unendlichkeit durch den Reichthum die Wirklichkeit zu erfüllen. Es darf, um sogleich eine nähere Vorstellung von diesem durch die neuere Geschichte hindurchgehenden Zuge zuerwecken, nur an Göthe’s Beispiel, an dessen innere Entwicklung, an die griechische Epoche desselben erinnert werden.

Auch bei Wagner haben wir eine ähnliche Wendung, einen ähnlichen Anschluß an Griechenland, mit dem Unterschied jedoch, daß in Folge einer fortgeschrittenen Zeit hier die Aufnahme des Antiken mit entschiedenerer Consequenz und in höherer Weise vollbracht uns entgegentritt, daß dort die Gegensätze immer nur bis auf einen gewissen Grad versöhnt sind, sich zum Theil noch einander ausschließen, während hier das Fremde mit Nothwendigkeit aus unserer eigenen Entwicklung hervorgeht, so daß es aufgehört hat ein Fremdes zu sein. Die Idee einer Vereinigung der verschiedenen Künste wie sie im griechischen Drama, der getrennten Entfaltung in der christlichen Zeit gegenüber, vorhanden war, ist deshalb ein nothwendiges Ergebniß der geschichtlichen Entwicklung.

Es ist indeß hier nicht meine Absicht, auf den angedeuteten Zusammenhang, die durch die immer tiefere Einigung mit Griechenland begründete Nothwendigkeit des Kunstwerks der Zukunft, auf eine von dem Gegenwärtigen weiter abliegende Betrachtung näher einzugehen; nur an die bezeichnete Consequenz sollte erinnert werden, um im Eingange sogleich auf das auch nach dieser Seite hin Berechtigte, geschichtlich Wohlbegründete, der Wagner’schen Idee hinzudeuten.

Ich beschäftige mich jetzt mit dem, was für den Künstler zunächst in Frage kommt, und hier handelt es sich vor allen Dingen um die Einsicht, daß die Eindrucksfähigkeit des Gesammtkunstwerkes gegenüber den höchsten Wirkungen der Sonderkünste eine unendlich gesteigerte ist, daß vor ihm diese, wenn auch noch so mächtigen, doch stets einseitigen Wirkungen verschwinden müssen.


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