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„Furcht und Freude, Leben und Entsetzen“: Die Geburtsstunde des Melodrams in deutscher Sprache

Anlässlich der Aufführung des Melodrams “Ariadne auf Naxos” von Johann Christian Brandes und Georg Anton Benda an der HMT Leipzig im April 2013 entstand dieser Programmhefttext von Felicitas Freieck.

Die Rezeptionsgeschichte antiker Dramen in der Musik ist lang – und wenn der Mythos von Ariadne und Theseus auch nicht am Anfang des modernen Musiktheaters stand, so repräsentiert er doch einen ersten Meilenstein in seinem weiteren Werdegang: Bereits im Jahre 1608 nämlich vertonte Claudio Monteverdi den Stoff in seinem Werk L’Arianna und bestätigte damit endgültig das dramaturgische Potenzial der Oper als Theatergenre. Ende des 18. Jahrhunderts dann nahm sich die Weimarer Schauspieltruppe von Abel Seyler des antiken Mythos wieder einmal an und setzte einen weiteren Meilenstein, indem sie mit Ariadne auf Naxos das Fundament für die Entwicklung und Verbreitung einer im deutschsprachigen Raum neu aufkommenden Gattung legte. Der Gothaer Hofkapellmeister Georg Anton Benda, welcher nach einigen Verwicklungen mit der musikalischen Ausgestaltung dieses Melodrams beauftragt war, unterlegte die Textvorlage von Johann Christian Brandes so mit Musik, dass die Rezitation der Akteure einerseits immer wieder den bildhaften, tonmalerischen Einwürfen des Orchesters zu weichen hatte, andererseits mit charakterisierender Musik unterstützt wurde:

Notenbeispiel

Dieses Prinzip von minutiös aufeinander abgestimmten reduzierten, plötzlich abbrechenden musikalischen Gesten und deklamiertem Text setzte einen komplett neuen ästhetischen Anspruch voraus, welcher nicht nur auf kompositorischer, sondern besonders auf dramaturgischer Ebene den Maßstab des Musiktheaters um einiges höher legte als bisher. Die Spannweite des subjektiven Gefühlsausdrucks umfasste zudem neben dem »Schönen und Erhabenen« nun auch das »Schreckliche und Grauenerregende« als der ästhetischen Gestaltung angemessenem Parameter – ganz im Sinne der nur wenige Jahre zuvor von Gotthold Ephraim Lessing verfassten Hamburgischen Dramaturgie, welche sich auf Aristoteles berief und das »Mitleiden« des Publikums als wesentlichste Wirkung eines Theaterstücks auf den Zuschauer deklarierte. Ariadnes Sturz in den Tod ist ein prägnanter Ausdruck dieses Topos:Schluss

Innerhalb Europas war Bendas und Brandes’ Ariadne jedoch nicht der erste Entwurf dieser Theatergattung gewesen. Bereits 1762 hatte Jean Jacques Rousseau bei der Arbeit an seinem Bühnenwerk Pygmalion an eine ähnliche Art der Vertonung gedacht und gesprochene Szenen mit musikalischen Intermezzi abwechseln lassen. Wie genau Benda damit vertraut war, ist unklar. Die Kenntnis erscheint immerhin möglich, wenn man um das große Interesse des Gothaer Hofs an der französischen, in erster Linie der Pariser Kultur weiß. Brandes jedenfalls hatte von Rousseaus Experiment gehört und benannte es im Vorwort einer späteren Ausgabe seines Librettos als einen Vorläufer des eigenen Textes.

Die Uraufführung der Ariadne fand in Gotha unter Beteiligung der gesamten Hofkapelle statt und wurde sowohl für die (ungewöhnlicherweise) weibliche Hauptdarstellerin als auch für Benda ein triumphaler Erfolg. Bei Schwickert in Leipzig erschien das Werk im Druck, nach einigen Jahren »zum Gebrauche gesellschaftlicher Theater« auch in einer Bearbeitung mit solistischer Streichquartettbegleitung und bezeichnenderweise mit alternativer französischer Textfassung. Cover

In den Bestandskatalogen von Breitkopf wurde mehrere Jahre vorher bereits die Partitur und ein Klavierauszug angezeigt. Ariadne auf Naxos konnte damit überall studiert und aufgeführt werden. Bedenkt man, in welchem Ausmaß das Werk bisherige Normen des deutschen Musiktheaters sprengte, ist dies keinesfalls als selbstverständlich anzusehen. Die Kritik fiel dennoch weitgehend positiv aus. So beurteilte Johann Nikolaus Forkel die neuartige Symbiose von Musik und Dialog im Gegensatz zum bisher Gewohnten als weitaus »begreiflicher und faßlicher«, während im Gothaer Theaterjournal gar von »Bewunderung und Ehrfurcht« für Bendas und Brandes’ Melodram die Rede war. Ähnlich euphorisch gab sich der Musikalische Almanach auf das Jahr 1772: »Eine so echt genialische Musik war in den Mauern unserer deutschen Schauspielhäuser noch nicht erschollen. Wem ist nicht beim Anhören der Ariadne Furcht und Freude, Leben und Entsetzen angekommen? Herr Benda brachte uns die neue Kunst des Melodramas, worinnen nicht gesungen wird, wo aber das Orchester gleichsam beständig den Pinsel in der Hand hält, diejenigen Empfindungen auszumalen, welche die Deklamation des Akteurs beseelen.«

Dass selbst eine schöpferische Koryphäe wie Wolfgang Amadé Mozart mehrmals seine Bewunderung für die neuartigen Kompositionstechniken Bendas aussprach, lässt erkennen, welchen Eindruck die Neuerungen hinterlassen hatten. In einem Brief vom 12. November 1778 schreibt er: »In der That, mich hat noch niemals etwas so surprenirt! Denn ich bildete mir immer ein, so was würde keinen Effect machen«. Er habe die Ariadne jedoch »mit dem größten Vergnügen aufführen gesehen«.

Weit über die Grenzen Deutschlands hinaus erwies sich die Adaption als attraktiv – so sehr, dass die bereits genannten Fassungen mit geringerer Instrumentierung für den »Gebrauch gesellschaftlicher Theater« eingerichtet wurden und es in den Folgejahren eine Reihe weiterer Melodram-Neukompositionen gab. Teilweise versuchte man, die Melodramtechnik in Opern umzusetzen, um den statischen, wenig dramatischen Charakter der Arie aufzulockern (z. B. bei Mozart und Carl Maria von Weber). Ariadnes Tod erwies sich für das Musiktheater um 1800 also als ein temporärer Neuanfang…

Felicitas Freieck


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