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Anna Tunger: Gleich und doch nicht gleich

Im (Corona-)Sommersemester 2020 haben Leipziger Studierende darüber nachgedacht, was Musik in der Werbung ist, wie sie funktioniert und was sie aussagt. Dem besonderen Semester mit E-Learning entsprechend, sollten die Ergebnisse auf besondere Weise präsentiert werden, also in einem Format abseits der akademischen Hausarbeit. Blog und VLog, Erklärvideo und Lernplattform, Comic und Hörbuch, alles war erlaubt. – Hier ist das Ergebnis von Anna Tunger zur Musik von Airlines.

   

Anna Tunger

HMT Leipzig

Gleich und doch nicht gleich

Betrachtet man Werbungen nationaler Airlines (also Flugzeuggesellschaften, welche sich in Besitz eines Staates befinden oder befanden) aus den letzten Jahrzehnten, so findet man auf einschlägigen Videoplattformen eine Menge in ihrer Machart, Strategie und Originalität teils sehr unterschiedliche Clips.

Gerade in den letzen 15 Jahren spielten viele dieser Werbungen offensiv mit nationalen Klischees, sodass sich zuerst die Frage aufdrängt, warum gerade ein Produkt, welches im wahrsten Sinne des Wortes auf Internationalität angelegt, mit solch einer Strategie beworben wird, und auf welchen Ebenen sich dies zeigt. Wie eine nationale Flugzeuggesellschaft ihr Land in der Werbung darstellt (und damit auch andere), ist eine nähere Betrachtung für sich wert.

Bei der Materialsuche fiel dann aber ein Phänomen auf, das im folgenden aus einem etwas anderen Blickwinkel dargestellt werden soll: Drei Airlines nutzten im Abstand von einigen Jahren oder gar Jahrzehnten das gleiche Musikstück.

Betrachten wir zuerst eine Werbung von El Al aus dem Jahr 2013…

…und eine aus dem Jahr 2015:

Beide sind mit einem Ausschnitt aus dem israelischen Popsong תמיד יחכו לך (tamid jechaku lecha: „Sie werden immer auf dich warten“) von Lea Schabbat[1] unterlegt, das erste Mal gesungen von Liran Danino, das zweite Mal von Yuval Dayan. Bis auf das Geschlecht des_der Sänger_in_s ändert sich musikalisch nichts, charakterlich bleibt es bei der typischen Spannung der aufbauenden, dramatisch-sehnsüchtigen Steigerung, die zum Höhepunkt (der Verkündung der Werbebotschaft) hinführt und sich am Ende wieder beruhigt.

Auch bei den folgenden Clips wird sich zeigen, dass die Wirkung der Musik in engem Zusammenhang mit der Botschaft steht, gerade dann, wenn im Gegensatz zu diesen beiden zwei unterschiedliche Arrangements verwendet werden.

Hier preist El Al zweimal etwas Neues an: neue Flugzeuge in der Flotte und eine neue Flugverbindung nach Boston. Zu beidem passt die prominent platzierte Liedzeile „sie warten auf dich!“ am Ende. Der Song liefert dabei nicht nur die erwartungsvolle Atmosphäre, sondern spricht den Adressaten persönlich an: Nur für „dich“ machen wir das alles! Im Sinne von „Never change a winning team“ bietet es sich also geradezu an, das Lied zwei Jahre später noch einmal zu verwenden.

Unfreiwillig komisch wirkt nur die Liedzeile כל מטוס שטס בשמיים (kol matoss, sche-tass ba-schamajim: „jedes Flugzeug, dass am Himmel fliegt“), wo doch in beiden Videos kein Flugzeug den Boden verlässt, von der Endcard abgesehen.

Deutlich spannender sind zwei Werbungen von British Airways. Die erste stammt aus dem Jahr 1989:

Die hier verwendete Musik ist „Aria“ von Yanni, einer Bearbeitung des Blumenduetts aus der Oper „Lakmé“ von Léo Delibes.

Diese Werbung sticht durch ihre ungewöhnliche Bildebene heraus – das Element Flugzeug taucht überhaupt nicht auf! Stattdessen werden aufeinanderzukommende und sich begrüßende Menschen gezeigt. Ikonisch tauchen ein lachendes Gesicht und die Weltkugel auf, welche von den Menschen gebildet werden. Die Botschaft wird am Ende explizit formuliert: British Airways bringt Menschen der ganzen Welt zusammen. Das Musikzitat aus einer populären französischen Oper, arrangiert von einem griechischen „Weltmusik“-Komponisten, unterstreicht diese Aussage. Die durch die vielen synthetischen Klänge beinahe abstrakt wirkende Bearbeitung korrespondiert dabei mit dem kubistisch anmutenden Gesicht.

Aus dem Jahr 2006 stammt eine weitere Werbung von British Airways, die den Refrain des Blumenduetts verwendet:

Anstatt der mit vorrangig synthetischen Klängen produzierten Yanni-Variante, die dadurch und durch die „Triolisierung“ der Melodie sehr statisch wirkt, liegt hier eine fast rein orchestrale Bearbeitung vor. Die Präsenz des Schlagwerkes ist aber ähnlich hoch. Besonders durch die Streicher und den sparsamen, auf dem Höhepunkt eingesetzten Vokalise-Gesang wirkt diese Fassung viel sehnsüchtiger, enthält viel mehr Steigerung.

Warum British Airways 17 Jahre später das gleiche Musikstück verwendet, lässt sich leicht mit der Popularität des Clips von 1989 erklären (vgl. die Kommentare unter dem YouTube-Video): Wer diesen kennt, hat ihn auch bei der neuen Werbung im Hinterkopf. Und auch die Botschaft scheint auf den ersten Blick gleich: British Airways bringt Menschen zusammen. 1989 wird das geradezu plakativ global dargestellt: alle Menschen auf der ganzen Welt. 2006 geschieht dies aber auf einer sehr viel persönlicheren Ebene, eine Familie fliegt von zwei verschiedenen Punkten der Welt zu einem dritten in den Urlaub. So einfach ist es also doch nicht: Wie die Musik beider Clips sind auch die Aussagen nicht völlig deckungsgleich.

Hier zeigt sich noch etwas anderes: In Werbung ist Mentalitätsgeschichte eingeschrieben.[2] Wenn 1989, am Ende des Kalten Krieges im 20. Jahrhundert, solch eine Werbung entsteht, dann werden hier gezielt Träume der vergangenen Jahrzehnte angesprochen und abgebildet. Ersteres ist das, was sie will und womit der Kunde zum Kauf animiert werden soll; letzteres tut jede Werbung unfreiwillig. 2006 scheint das Um-die-Welt-Jetten normaler, das für immer mehr Menschen zugängliche Internet macht alle und alles erreichbar – global mit allen vernetzt zu sein ist keine Vision mehr. Der internationale Terrorismus lässt die Welt ebenfalls zusammenrücken, hat aber auch zu einem unsanften Erwachen geführt: Anstelle von Träumen und Visionen herrscht angesichts der nicht greifbaren Gefahr und Angst bei den Millenials, die mittlerweile schon erwachsen sind, quasi Biedermeierstimmung. Entsprechend zieht sich auch die Werbung ins Private zurück und die globale Familie will einfach nur zu viert Urlaub am Strand machen; rührselige, weil an hoffnungsvollere Zeiten erinnernde Musik, inklusive.

Noch deutlicher zeigt sich der Zusammenhang von Werbung, Musik und Mentalitätsgeschichte in zwei Videos von Alitalia.

Zuerst ein Musikvideo[3] von 1977, einer Latin Jazz-Nummer gesungen von Raffaela Carrà, die mit einem Männerballet über Rollfeld und Flugzeug tanzt:

„Nel blu dipinto di blu“ war, schon lange bevor ihn Alitalia 1977 genutzt hat, ein bekannter italienischer Popsong,[4] besser bekannt als „Volare“, nach dem markanten ersten Wort des Refrains. In dieser Zeit wurde Italien beliebtes Urlaubsland (gerade von Deutschen). Alles „Italienische“, das das Flair von Ferien in den Alltag hinübertrug, war angesagt. Ein solch mitreißender Popsong wird so zu einem Schlager, der mit „Sonne, Strand, italienischem Essen, Urlaub, Spaß, Leichtigkeit, Ungezwungenheit“ (usw.) assoziiert wird. In diese Aufzählung passt eine Fluglinie, welche einen dort hinbringt, perfekt hinein.

Auffällig ist nun aber, dass Alitalia den Song in der Nuova-Kampagne von 2016 mit einem völlig anderen Charakter verwendet:

Eine Popballade, nachdenklich und ruhig von Malika Ayane zur dezenten Klavierbegleitung gehaucht, statt flottem Latin Jazz mit Bigband und Tanz. Der Musikcharakter unterstreicht nicht nur die Werbebotschaft der Oberfläche (auch die Musik ist altbekannt und doch neu), sondern spiegelt den Unterschied in der Mentalität wieder: Nicht der den vermeintlich ungezwungeneren mediterranen Lebensstil verehrende deutsche/ kalteuropäische Urlauber wird angesprochen, der für zwei Wochen Anzug und Büro entfliehen will, sondern Businessmenschen: Vielflieger, die keinen Spaß suchen, sondern die unvermeidliche Reise so entspannt wie möglich verbringen wollen. Man beachte auf der Bildebene das Zeigen der Lounge, des bequemen Flugzeugsitzes und des erlesenen Essens, auf der Tonebene das Versinken in der Musik und Ausblenden aller störenden Umgebungsgeräusche.

Hier stellt sich weniger die Frage, warum zweimal das gleiche Lied verwendet wurde, sondern warum man nicht einen ganz anderen Song nutzt, wenn doch die Botschaft so anders ist – weil die Businessmenschen von heute als Kinder „Volare“ aus dem Fernseher tönen hörten und damit Italien inklusive aller dazugehörigen Assoziationen und Emotionen verknüpft haben. Und auch wenn sie jetzt beherrscht und ernst ihrem Leben nachgehen (viel mehr als ihre Eltern), schwingen diese Gefühle beim Hören mit und wecken unbewusst Sehnsüchte. Ein Flug mit Alitalia scheint dann den Druck und den Ernst der Selbstoptimierungsgesellschaft mindern zu können – aber natürlich nur ein bisschen, man will sich ja nicht völlig gehen lassen und wie die Eltern auf dem Flugzeug tanzen…

Es finden sich also gute Gründe dafür, zweimal das gleiche Musikstück zu verwenden. Es hat sich nicht nur bewährt, sondern bringt einen starken Wiedererkennungseffekt mit sich: Der Adressat ist mit Gedanken und Gefühl sofort beim Produkt, die „Einschwingzeit“, wie der Komponist Klaus Wüsthoff[5] die ersten Sekunden einer Werbung nennt, verringert sich. Der Zuschauer muss nicht erst entschlüsseln, um welches Produkt es in dem Clip geht, sondern kann gleich damit beginnen, die spezifische Werbeaussage dieses Clips herauszufinden (dies geschieht freilich alles unbewusst). Gleiche bzw. ähnliche Musik bietet die Chance, ein bekanntes Produkt mit einer neuen oder erweiterten Botschaft zu versehen.

Betrachtet man nun noch die in die Werbung eingeschriebene Mentalitätsgeschichte, die sich schon allein durch ein anderes Arrangement der verwendeten Musik zeigt, ist das selbstreferenzielle Vorgehen speziell bei British Airways und Alitalia geradezu genial: Die angesprochene Werbezielgruppe wird nicht nur in ihrer aktuellen Verfassung abgeholt, sondern zugleich auch mit ihren tiefliegenden, durch Kindheit, Erziehung und Bildung erzeugten Prägungen.

Zugleich zeigt sich durch den Vergleich solcher aufeinander aufbauender Werbungen, was schon Marschall McLuhan schrieb:

„The historians and archeologists will one day discover that the ads of our time are the richest and most faithful daily reflections that any society ever made of its entire range of activities.“[6]

Endnoten

[1] https://shironet.mako.co.il/artist?type=lyrics&lang=1&prfid=575&wrkid=3185

[2] Marshall McLuhan zeigt in Understanding Media (besonders S. 248f.) auf, dass für funktionierende Werbestrategien die Gesellschaft analysiert werden muss, um sie perfekt anzusprechen. In der Werbung ist die ihr aktuelle Gesellschaft gleichsam als Kondensat enthalten. In einem umgekehrten Methodenschritt würde dies bedeuten, dass aus Werbung auf die sie umgebende Gesellschaft und Zeit geschlossen werden kann (vgl. S. 253). Das wird hier versucht.

[3] Es ist kein typischer Werbeclip (das hieße: nicht viel länger als ein bis zwei Minuten; Botschaft, warum man ein Produkt kaufen soll, wird in Bild und/oder Sprache klar vermittelt), aber trotzdem Werbung, weil das Produkt (Alitalia) auf der Bildebene klar im Mittelpunkt steht. Das Video steht in der Tradition der „Goodwill“-Strategie der Radiowerbung zu Beginn des aufkommenden Mediums in den 1920/30er Jahren (vgl. Taylor: Sounds of Capitalism, S. 22): Firmen lassen in ihrem Namen ausgesuchte Musik übertragen in der Hoffnung, dass die Konsumenten sich für das kostenlose Konzert durch den Kauf der Produkte des Sponsors revanchieren.

[4] Der Song von Domenico Modugno erreichte auf dem Grand Prix 1958 den dritten Platz und wurde später ein weltweit bekannter Hit. Vgl. https://www.eurovision.de/geschichte/1958-Grand-Prix-Eurovision-De-La-Chanson-Europeenne-in-Hilversum,hilversum103.html

[5] Vgl. Wüsthoff: Die Rolle der Musik, S. 9f.

[6] Marshall McLuhan: Understanding Media, S. 253.

Literatur

McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man [1964]. London und New York: Routledge 2001.

Taylor, Timothy D.: The Sounds of Capitalism. Advertising, Music, and the Conquest of Culture. Chicago und London: University of Chicago Press 2012.

Wüsthoff, Klaus: Die Rolle der Musik in der Film-, Funk- und Fernsehwerbung: Mit Kompositionsanleitungen für Werbespots und einer Instrumententabelle der Gebrauchsmusik. Zweite, überarbeitete Auflage. Kassel: Merseburger 1999.

https://shironet.mako.co.il/artist?type=lyrics&lang=1&prfid=575&wrkid=3185

https://www.eurovision.de/geschichte/1958-Grand-Prix-Eurovision-De-La-Chanson-Europeenne-in-Hilversum,hilversum103.html


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