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Stephan Krehl, „Musikerelend“, Teil III

Im Jahre 1912 erschien das Buch »Musikerelend« des Komponisten und Musiktheoretikers Stephan Krehl (1864–1924). Krehl, seit 1902 am Leipziger Konservatorium tätig und von 1907 bis zu seinem Tod Leiter der Institution, stellte dort laut Untertitel »Betrachtungen über trostlose und unwürdige Zustände im Musikerberuf« an. Sie sind polemisch formuliert und geben unmittelbare, heute teils kurios anmutende Einblicke in seine Sicht des Musiklebens, insbesondere mit Blick auf die soziale Stellung der Musiker_innen, in einer Zeit des Umbruchs.

Stephan Krehl (1864–1924):

Musikerelend

Betrachtungen über trostlose und unwürdige Zustände im Musikerberuf

[Teil III]

Leipzig: C. F. W. Siegel [1912].

[32] 2. Tote Seelen.

Unangenehm, ja widerwärtig ist das geschäftliche Gebaren, wie es sich leider neuerdings in der Kunst breit macht. Mit Geld kauft man die Welt, klingende Münze schafft das Renommee, mit Gold lockt man den Beifallsjubel hervor. Nichts ist mehr heilig in dem Tempel der Kunst. In krasser Pietätlosigkeit werden die Heiligtümer der Ahnen zerstört. Manch einer, der nicht Geschäftssinn genug besitzt, um sich durchzudrücken, der nicht modern genug denkt, um an den Profanationen teilnehmen zu können, geht erbarmungslos zugrunde. Aber trotz seines äußerlichen Versinkens, seines schmerzlichen Leides ist er wohl innerlich ruhiger, sieht er getrost seinem Ende entgegen, denn er ist nicht schuldbeladen wie andere, welche auf unrechter Bahn zu äußerem Glänze gelangt sind. Es ist unsagbar traurig, daß nicht wenige Künstler bei dem gewaltsam inszenierten Aufstieg zu ihrer Scheinherrlichkeit innerlich kaput [sic] gehen, innerlich absterben. Ein Dirigent, ein Sänger, ein Virtuos, ein Komponist weiß sich in dem Getriebe mit großem Glück durchzusetzen. Er gelangt äußerlich zu einem staunenswert prächtigen Resultat. Doch in dem Kampf hat nur der Körper gesiegt, der innere Mensch ist abgestorben. In glänzender Hülle ruht eine tote Seele.

Gar seltsam ist es, daß die Beschäftigung mit der unvergleichlich schönen und edlen Kunst so selten den inneren Menschen berührt. Große Künstler, welche dank ihrer außerordentlichen Befähigung einen tiefen Einblick in die Geheimnisse der Tonkunst gewonnen haben, sind keineswegs dadurch zu einer größeren inneren Vollkommenheit gelangt. Im Gegenteil! Sie sind voll von Lastern, ihre moralischen Anschauungen haben sich vollständig verwirrt. Sicher sind die Koryphäen [33] in ihrer Sonderstellung mehr der Gefahr ausgesetzt, ihre Reinheit zu verlieren. Aber die geheimnisvolle Macht der unsagbar großen Kunst sollte sie doch auch in ganz anderer Weise schützen und bewahren, sie auf sicherem Wege aus dem Schmutze des Daseins emporführen. Fälschlicherweise ist man bei Leuten, welche aus irgendeinem Grunde eine größere Bewegungsfreiheit haben, nachsichtiger gegen schlechte, ja gegen falsche Bewegungen. Niemand wundert sich auch nur im geringsten, wenn die Künstler dem unsaubern Sensationsbedürfnis der jetzigen Zeit Rechnung tragen. Das Publikum erwartet von einer Neuerscheinung, daß sie interessant ist. Unter dem »interessant« wird aber »pikant« oder besser »unmoralisch« verstanden. Die Opern, Singspiele und Operetten, welche neuerdings mit erstaunlichem Erfolge die Bühnen der ganzen Welt beherrschen, sind in ihren Sujets nur zu häufig gemeiner, schlüpfriger oder perverser Natur. Der Theaterbesucher wird nicht erbaut und angeregt, sondern nur verwirrt und aufgeregt. Die Musik unterstreicht bei ihrer enormen Ausdrucksfähigkeit alle Bühnenvorgänge energisch. Sie schmiegt sich so intensiv den Worten, den Handlungen an, daß sie mit diesen scheinbar selbst moralisch oder unmoralisch wird.

Die absolute Musik hat es nun freilich schwer, unmoralisch zu werden. Es gibt keine tonlichen Symbole für Unsittlichkeit; die Tonfolgen fügen sich diesem zeitgemäßen Wunsche nicht. Sonst hätten wir längst sexuelle Klavierstücke. Aber durch Extravaganzen aller Art läßt sich auch in Klavierstücken, in der Kammermusik, im Orchester dem Sensationsbedürfnis Rechnung tragen. Was das Publikum haben will, das wird schließlich in ausreichendem Maße geliefert. Und leider sind es häufig gerade hervorragend begabte und intelligente Musiker, die sich von der Sensationslust der Menge auf Abwege ziehen lassen. Eine Persönlichkeit, die erzieherisch zum Guten wirken sollte und könnte, wird zum raffinierten Verherrlicher gemeiner [34] Instinkte. Man kokettiert mit dem Theismus und verkündet grinsend den Atheismus; man tut verschämt und züchtig und huldigt lachend der Perversität. Dieses Widerspruchsvolle, dieses Unwahrhaftige und Verlogene, das wirkt auf die heranwachsende Jugend, auf alle Unklaren und Urteilslosen äußerst schädlich.

Den Begabten darf man alle Seitensprünge viel weniger nachsehen als den geistig Armen. Ihnen wird in ihrer hohen Begabung eine solche Macht verliehen, daß jeder Mißbrauch davon als ein grobes Unrecht zu brandmarken ist. Aber es gibt Leute, die ihren Verstorbenen die Sündenfälle noch zum Ruhme anrechnen möchten, die nicht zuzugeben geneigt sind, daß ihr Abgott ein Götze ohne Seele war. Wer die Macht hat, hat das Recht. Wer das Recht hat, darf Unrecht tun, um einen Sünder reinzuwaschen. So folgert man ganz ungeniert und macht aus der Wahrheit eine Dichtung, aus der Geschichte ein Märchen. Anstatt offen zu bekennen, wenn bei einem großen Künstler, dessen Lebenslauf man überschaut, die Reinheit des Empfindens sich nicht ebenbürtig der Reinheit der Tonkunst zeigte, daß deprimierende Defekte hier vorhanden waren, sucht man die Fehltritte zu verherrlichen und den Anschein zu erwecken, als ob die große Kunst auch den Menschen groß gemacht habe.

Wirklich, bisweilen macht es den Eindruck, als ob Musizieren eine rein mechanische Beschäftigung sei. Zweifelsohne ist zunächst das Technische an der Kunst etwas Äußerliches. Man probiert, man studiert, man experimentiert ohne inneres Erlebnis. Mit solchen nicht tief gehenden Vorübungen werden aber doch nur die Wege geebnet, damit das eigentliche Kunstwerk ohne Schwierigkeit geschaffen werden kann. Bei der genialen Produktion, wie bei der Reproduktion, wächst die Technik aus der inneren Idee heraus. Eine erhabene Leistung kann nur erzielt werden, wenn das Technische innerlich mit[35]empfunden ist. Bei jeder Art bedeutsamen und großen Schaffens muß die Seele in Mitleidenschaft gezogen sein, mitschwingen. Augenscheinlich trennt sich aber bei Vielen ein Teil musikalisch empfindender Seele ab. Vielleicht wird bei ihnen nur momentan eine Seelenvibration erzeugt, die aber nicht nachhaltig genug ist, um in dem Menschen weiter zu zittern. Oder sie verstehen es nicht, eine Verbindung auch mit den weniger empfindsamen Teilen herzustellen, dieselben günstig zu beeinflussen. Und das müßte doch das Erste sein, daß jede Kunstäußerung, welche momentan aus guten und edlen Motiven entspringt, auch dauernd bessernd und verklärend wirkt.

Die große Menge hat ja von der erlösenden Macht der Kunst überhaupt keine Ahnung. Die Konzerte werden besucht, in den Theatern macht man sich breit, die Säle der Gemäldeausstellungen werden durchquert aus unkünstlerischen, aus prosaischen Motiven. Die Künstler sind doch eben in den Augen gar vieler immer noch Ausnahmsmenschen, mit denen man nicht im Sinne wie mit den andern Menschen rechten kann. Sie sind die Gaukler, deren man zur Unterhaltung aber gar dringend bedarf.

Von jeher ist in der Künstlerschaft ein freier Ton heimisch gewesen. Leider haben aber auch stets schlechte Elemente diesen freien Ton auf einen gemeinen Ton herabgestimmt. Und dieser unreine Ton ist es nun gerade, der vielen Sterblichen so ungemein verlockend klingt. Man möchte die künstlerische Freiheit des Verkehrs nicht in der Familie haben, findet sie aber zur zeitweisen Kenntnisnahme sehr interessant, eine vorübergehende Beschäftigung mit ihr höchst amüsant. Das nutzen bedauerlicherweise gar viele aus, die sich Künstler nennen und doch nur Vagabunden in der Kunst sind. Ihnen ist die Kunst nur das große Reklameschild, hinter dem sie ein unsauberes Leben führen. Sie wissen wohl zu schätzen, [36] wie viel sie sich hier leisten können, was ihnen sonst im Leben arg verübelt würde.

Eine arme Frau, welche vorübergehend in einem Haushalt beschäftigt ist, hat, um den Hunger ihrer Kinder zu stillen, etwas gestohlen. Wie wird da, als der Diebstahl entdeckt ist, die Empörung rege. Niemals wieder wird man die Person im Hause beschäftigen. Sie ist eine gebrandmarkte Verbrecherin. Ein Künstler, welcher die gemeine Schande des Ehebruchs auf sich geladen hat, welcher moralisch ein zehnmal größerer Verbrecher ist, als die arme Diebin, die nur in höchster Not zum Verbrechen schritt, der verkehrt nach wie vor in demselben Haus. Er ist eine Zierde der Gesellschaft, der moralische Fleck macht ihn amüsant. Gesangs- und Instrumentalvirtuosen gibt es, welche in moralischer Beziehung Verbrechen auf Verbrechen häufen. Die große Menge verachtet sie deshalb nicht. Im Gegenteil! Nach erneutem Skandal erneuter Jubel, je mehr innerlicher Verfall, desto größeres äußerliches Aufsteigen, je mehr Schmutz, um so mehr Glorie.

Die große Menge wartet ja doch nur von Tag zu Tag auf Skandale; ihr ist dieses freie Benehmen sehr sympathisch. Sie ergötzt sich daran, solange es ihr paßt; sie wendet sich freilich auch rücksichtslos ab, wenn sie davon übersättigt ist. Wer die Kunst tief und innerlich empfindet, beobachtet mit tiefem Schmerz die große Versumpfung. Wie schwindet da oft die Hochachtung für Künstler, welche scheinbar bedeutsame Naturen sind und doch einen so schimpflichen Lebenswandel führen. Ein Pianist hat durch seine eigenartigen Leistungen in einem Konzert Aufsehen erregt. Man sucht ihn am Morgen nach seinem Auftreten im Hotel auf, um ernste künstlerische Fragen mit ihm zu besprechen. In seinem Zimmer weilt eine nur wenig bekleidete Dame, eine angebliche Schülerin, welche der Hoteldiener die Frau Gemahlin tituliert. Doch die Liebschaften gehen die Mitmenschen nichts an; das mag ein Jeder [37] mit sich selbst abmachen, so lange er frei und unabhängig ist. Wenn man aber weiß, daß unser Don Juan zu Hause eine junge zarte Frau besitzt, die am Bett ihres kleinen Kindes weilt und die Reinheit des Hauses behütet, während der Mann auswärts die Ehre desselben besudelt, ist man nicht mehr im Stande, an die wahre Künstlerschaft zu glauben.

Von einem anderen Musiker ist bekannt, daß er seine Frau betrügt. Die Ärmste hat sich mit ihrer ganzen Familie zerworfen, hat alles, was ihr in der Heimat teuer war, verlassen, um dem von ihr aufrichtig geliebten Künstler zu folgen und alle Entbehrungen mit ihm zu teilen. Der Ehrenwerte bekommt die von den Eltern Verstoßene und Enterbte bald überdrüssig; er wirft sich einer ordinären Person in die Arme und betrügt die bedauernswerte Frau, welche sich völlig dem Manne geopfert hatte.

Es ist betrübend, all der Schändlichkeit, all der empörenden Niedertracht zu gedenken, wie sie sich in solchem Benehmen äußert. Da viele dieser Kunstvirtuosen auch Lebensvirtuosen sind, so wissen sie sich immer mit Grazie über alle Schwierigkeiten hinwegzusetzen. Die Ehen, welche im Himmel geschlossen werden, sollen sich auch erst im Himmel lösen, so sagen sie. Eine Künstlerehe ist aber eine Sache mit sehr irdischem Beigeschmack, daher soll sie nach nicht zu langer Zeit auf Erden wieder getrennt werden. Scheidungsgrund ist stets da, weil Ehebruch konstant vorliegt.

Häufig wird eine Scheidung aber gar nicht für notwendig erachtet oder überhaupt nicht in Betracht gezogen. Die Unkosten davon sind viel zu bedeutend. Äußerlich bleibt das Pärchen scheinbar hübsch säuberlich beieinander. Tatsächlich aber lebt es – echt musikalisch – als Triole weiter. Er fährt auf seinen Konzerttournees mit seiner neuen Auserwählten herum, schenkt ihr und eventuell den Kindern, welche er von ihr hat, bedeutende Summen, findet dann aber natürlich [38] kaum die Mittel, seine legitimen Sprößlinge gehörig zu bedenken.

Wie muß es in dem Innenleben von solchen Menschen aussehen? Welch moralische Anschauungen werden sich bei ihnen herausbilden? Da wird ein sonderbares Ideal für eine vollkommene Welt, für eine geläuterte Menschheit, eine edle Kunst konstruiert werden!

Die Grenzlinien zwischen Gut und Böse sind bei diesen Menschen verwischt, ja vertilgt. Wahrhaftig, in ihnen ist etwas erstorben. Ihre Seele ist tot, da sie noch leben, noch wirken.

Die Entschuldigungen, welche für alle die Fehltritte der Künstlerschaft angeführt werden, sind sehr einfach. In allen Schichten der Bevölkerung (so sagt man), in allen Berufsarten kommen Entgleisungen vor. Warum soll der Künstlerstand davon ausgenommen sein?

Das ist wohl richtig! Wir würden auch von den Künstlern keine besondere Lebensführung verlangen, wenn wir nicht außergewöhnliche Anregungen von ihnen erwarteten. Solange die Kunst nichts ist als eine Unterhaltung in müßigen Stunden, solange Kunstäußerung nur handwerksmäßige Gauklerei bleibt, sind auch an sie und ihre Verkünder keine abnormen Anforderungen zu stellen. Nun gibt es doch aber Leute, denen die Kunst ein Heiligtum ist, denen die Beschäftigung mit der Kunst zum Gottesdienst wird. Diese beanspruchen auch, daß sich die Priester der Kunst rein halten, daß die Verkünder der ewigen, unvergänglichen Schönheit keine falschen Propheten sind, sondern bis in das Innerste berührte, geläuterte Wesen.

Keinem Ernstgläubigen ist es gleichgültig, wie sich ein Diener der Kirche beträgt, wie ein Verkünder ewiger Wahrheiten denkt und empfindet. Der gläubige Christ sucht in seinem Pfarrer nicht nur einen glänzenden, bestechenden Kanzelredner, er sucht in ihm auch den bessern, geläuterten Menschen, welcher durch Umgang mit edlen Christen, durch ununter[39]brochene Beschäftigung mit den Fragen über die letzten Dinge, durch Abkehr von den kleinlichen Sorgen und Kämpfen des Lebens zu größerer, innerer Ruhe und Abgeklärtheit gekommen und dadurch in den Stand gesetzt ist, andern kämpfenden und schwankenden Naturen eine Stütze, ein Halt zu sein.

Zur größeren Freiheit und Selbständigkeit dringt aber niemand durch Abkehr vom Leben vor. Nichts kann törichter sein, als das Heil in der Weltflucht suchen zu wollen. Viele meinen dadurch jenseits von Gut und Böse zu kommen und sie gelangen doch nur zu leicht zum Überbösen. Nein, mitten im Leben muß man stehen, der Kampf des Daseins muß ringsherum toben, und trotzdem soll eine Erlösung, eine Befreiung gefunden werden, die echt ist, weil sie auf natürliche Weise zustande kam. Beim Musiker soll es keine Trennung zwischen Künstler und Mensch geben. Faktisch kann ja eine solche auch gar nicht bestehen; nur soll der Künstler den Menschen ungleich mehr beeinflussen, ungleich mehr läutern, als es so häufig der Fall ist. Alle rechtlich und ehrlich denkenden Musikfreunde erwarten von den Kunstproduktionen keine Täuschungen, sondern Belehrungen und Erbauungen. Eine Belehrung kann wohl aber nur der Mensch geben, welcher innig und tief das Kunstwerk durchdacht hat, eine Erbauung vermag nur derjenige zu gewähren, welcher selbst geläutert worden ist.

In Jeder Art des musikalischen Unterrichts benötigen wir musikgeschichtlicher Betrachtungen. Größte Vorsicht muß allerdings dabei für die biographischen Besprechungen geboten sein. Kann es doch nicht zur Vertiefung feinen Kunstempfindens beitragen, wenn immer von neuem festzustellen ist, wie gehässig sich große Künstler über geniale Zeitgenossen, ebenbürtige Mitkämpfer ausgesprochen haben. Die musikalische Ausdrucksweise fortschrittlicher Musiker ist meist nicht im Augenblick zugänglich und wird nur zu häufig selbst von Künstlern, denen man das eigenartigste Mitempfinden zutrauen [40] sollte, mißverstanden. Da fallen spitze Bemerkungen, unfreundliche, kränkende Worte.

Solch kleinliche Züge und Gefühlsroheiten geben leider nur zu häufig sinn- und geschmacklosen Anbetern bedeutender Menschen willkommene Gelegenheit, eine ordinäre Hetze zu veranstalten. Welch böse Auswüchse hat das Cliquenwesen, wie es in den letzten vierzig Jahren innerhalb der Musikerkreise entstanden ist, gezeitigt! Dadurch ist das versöhnende Element so unbarmherzig aus der Musik ausgeschaltet worden. Die Rücksichtslosigkeit in dem Streit der Parteien hat nur zu stark alle Nächstenliebe unterdrückt. Mit starrem Entsetzen ist der harten Worte zu gedenken, deren sich einzelne Helden solcher Cliquen beim Tode von großen Künstlern, welche dem Abgott der Sippschaft verhaßt waren, bedient haben. Ein derartiges Gebaren scheint wirklich nicht für den veredelnden Einfluß der Kunst zu sprechen.

Ist deshalb wirklich der Musik ein Vorwurf zu machen? Dürfen wir die Kunst für diese menschlichen Sünden zur Verantwortung ziehen?

Das wäre töricht genug! Mit Beschämung allein ist festzustellen, daß in diesen Menschen etwas erstorben ist. Sie haben es nicht verstanden, die Funken mitleidsvoller Liebe, welche die Gottheit ihnen in ewiger Teilnahme verliehen, an dem Altar der Kunst zur hellen Flamme zu entzünden. In greulicher Selbstüberhebung haben sie sich von dem göttlichen Einfluß der Kunst losringen wollen und sich dabei selbst verstümmelt, einen Teil der Seele, der zum Leben erweckt werden konnte, ertötet.

In jedem großen Getriebe werden sich stets schlechte Elemente vorfinden. Die vollständige Vernichtung derselben wird ein Ding der Unmöglichkeit sein. Passiert es doch häufig genug, daß bei einzelnen Persönlichkeiten schlechte Instinkte erst spät plötzlich und gewaltsam hervorbrechen.

[41] Niemand aber wird schlecht, wenn er nicht Anlage zum Bösen in sich trägt. Das Böse zu bekämpfen, vor dem Bösen zu warnen, das muß eine der vornehmsten Aufgaben in der Erziehung sein. Alle Mittel, welche zur Veredlung, zur Verfeinerung des Menschen beitragen können, müssen hierzu willkommen sein.

Wird es mit Absicht oder durch Zufall übersehen, daß uns gerade in der Beschäftigung mit den Künsten ein so herrliches und wichtiges Erziehungsmittel erstehen kann? Werden nicht einem Jeden, der sich in die Ideenwelt unserer großen Maler, Bildhauer und Musiker mit Ernst versetzt, die Stunden des Einlebens in die tief künstlerischen Geheimnisse zu Stunden wahrer Erbauung? Wohl kostet es oft Mühe, den Ideen zu folgen, den intimen Gefühlsmomenten nachzuspüren. Welch hohe Befriedigung gewährt es aber auch, wenn die wirkliche Anteilnahme an all der Schönheit angeregt worden ist. Offen gesagt, bleibt es unververständlich, daß von gewisser Seite aus das äußerliche Erlernen toter Sprachen nach wie vor für das wichtigste Erziehungsmittel gehalten wird. Der Jugend wird dabei recht wenig angepaßt. Wir erleben es daher häufig genug, daß Knaben von dieser Erziehungsmanier vollständig unberührt bleiben, nicht gefördert werden. Sie fassen keine Zuneigung, fühlen sich aber auch von dem, was ihnen geboten wird, nicht abgestoßen. Die vollständige Gleichgültigkeit ist vielleicht die schlimmste Erscheinung dabei und fällt zu gleicher Zeit das vernichtendste Urteil gegen diese Art der Bildung.

Musik ist kein leeres Spielen mit Tönen. Darüber ist man sich längst klar. Mancher Komponist schreibt wohl eine Anzahl Werke so leicht hin, mechanisch, aus Gewohnheit. Solche Werke werden aber dann auch nur technisches Interesse haben, eventuell sogar völlig eindruckslos vorübergehen. Was zum Herzen geht, muß auch vom Herzen kommen. Von wahrer [42] Musik kann gar nicht anders als von »Musik als Ausdruck« gesprochen werden. Wie man den Ausdruck der Musik immer und immer wieder zu deuten bestrebt ist, so soll man auch den gewaltigen Eindruck, welchen sie hervorzubringen vermag, vielmehr würdigen und ausnutzen. Es gibt keine Kunst, welche in gleicher Vornehmheit und Reinheit wie die Musik, Empfindungen darzustellen imstande ist. Unter den Kindern ist stets nur ein kleiner Teil im eigentlichen Sinne musikalisch. Doch lassen sich gar viele willig und gern von den schönen Folgen einer guten und edlen Musik beeinflussen. Einer lebenswarmen Ästhetik kann es im Jahrhundert des Kindes wohl nicht schwer fallen, die ersehnte, allgemeine, verständliche und nützliche künstlerische Lehrmethode aufzustellen.

Ebensowenig wie die Musik ein leeres Spielen mit Tönen ist, darf die Beschäftigung mit der Musik ein unnützer Zeitvertreib sein. Mit Ernst sollen alle Übungen vorgenommen werden. Übermäßige Strenge ist aber keineswegs immer bei den künstlerischen Elementarübungen richtig angebracht. Die Schule steht den künstlerischen Bestrebungen feindlich gegenüber. Sie gönnt ihnen nur ungern und wenig Zeit. Viele Eltern jedoch wünschen, daß ihre Kinder sich in der Musik betätigen. Von Schulstunden und Arbeiten ermüdete Geschöpfe werden gezwungen Übungen auf dem Klavier, Studien auf der Violine zu machen. Nur widerwillig gehen die von der Schultätigkeit abgespannten Kinder an diese Beschäftigung mit der Kunst. Von irgendeinem Wohlbefinden bei den Übungen ist fast nie die Rede. Im Gegenteil! Die Viertelstunden der Exerzitien sind eine Qual, eine Elend für die Zuhörer, eine Strafe für die Ausführenden. Man beschäftigt sich bei diesen Studien angeblich mit der Kunst. Von der wunderbaren Wirkung derselben, von ihrer geheimnisvollen Bildung ist nicht im entferntesten die Rede. Daß sich in den feinsinnig geordneten Tönen, in den wundersamen Harmonien ein reiches Gefühls[43]leben widerspiegelt, daß die kostbaren Melodien der großen Meisterwerke der Tonkunst ein Abglanz ewiger Schönheit sind, davon kommt dem Kinde nichts zum Bewußtsein. Die Jugend empfindet in den Musikstudien meist nur die Last, welche den Schulplagen noch aufgesetzt wird.

Die Eltern wollen bei ihren Kindern bald eine ansehnliche Beherrschung der Technik in der Kunst sehen. Die Schule betrachtet mißgünstig jede künstlerische Beschäftigung, weil sie den Schüler von den eigentlichen Schulaufgaben abzieht. Das Kind versteht nicht den Sinn der künstlerischen Beschäftigung, weil niemand ihm den seelischen Wert der Kunst erklärt.

Ist es ein Wunder, daß bei der wirklich geringen inneren Anteilnahme so viele schlechte Resultate erzielt werden? Kann es uns in Erstaunen setzen, daß in dem Menschen die künstlerische Seele abstirbt, wenn ihr nicht zum Leben verholfen wird? Einige Fortschrittler glauben jetzt, den Sinn für die Musik vertiefen zu können, indem sie auf die rhythmische körperliche Bildung größere Sorgfalt verwenden. Überkluge legen sogar den Inhalt der Musik schrittweise aus, sie tanzen denselben. So werden all die intimen Gefühlsregungen einer Mazurka von Chopin, die zarten Poesien eines Schumannschen Phantasiestückes dem Zuhörer durch elegante, süß sinnliche Körperbewegungen einer schönen Tänzerin vermittelt.

In einer Blütezeit der Technik, einer Periode der Veräußerlichung aller Lebenserscheinungen darf das Mechanische in der Kunst nicht noch gefördert werden. Die künstlerische Technik ist sowieso weit genug vorgeschritten. Für ihre fernere Entwicklung soll niemand in Sorge sein. Die Orchestrierungskunst hat in der jüngsten Zeit glänzende Fortschritte gemacht, die Gelenkigkeit so mancher Pianisten, die Fingerfertigkeit von Geigern muß offen und ehrlich anerkannt werden.

Uns fehlt etwas ganz anderes. Nicht an äußerlicher, an innerlicher Bildung vielmehr stehen wir zurück. Die Fähig[44]keit des Innenlebens, alle leisen Schwebungen, welche sich nahen, empfindsam aufzufassen, die mangelt uns. Dazu bedarf es, so möchte man sagen, einer Seelengymnastik. Alle Empfindungen gesund und kräftig zu machen, das kindliche Gemüt empfänglich für das Schöne, Wahre und Sittliche in der Kunst zu formen, das ist wünschenswert.

Die schwere Aufgabe einer Umgestaltung des musikalischen und des allgemeinen Unterrichts wird den in der Öffentlichkeit unbeachteten Leuten, den ernsten, fortschrittlich gesinnten Männern, deren Herz noch nicht erkaltet ist, zufallen. Aber was können sie schließlich auf dem künstlerischen Gebiete Gutes mitteilen, wenn die großen Herren, die Komponisten, die Virtuosen, die Kapellmeister selbst nichts Gutes tun? In wie viel Fällen vermag man den Kindern zu sagen: »Seht! der große Künstler, welcher in unserer Stadt lebt und uns so häufig die Meisterwerke der Tonkunst vermittelt, ist durch seine Kunst auch ein edler Mensch geworden. Nehmt ihn Euch zum Muster«! Hoffen wir, daß die schlechte Zeit einer vollständigen Verwirrung und Verwilderung der künstlerischen, moralischen Anschauungen bald vorübergehen und einer reineren, idealeren Platz machen wird. Die vermaledeite Idee der Gottähnlichkeit, welche manchen Künstlern im Kopfe steckt und ihnen das vermeintliche Recht gibt, zu tun, was sie wollen, muß einer besseren Einsicht weichen. Und zwar hat das Bewußtsein sich zu verstärken, daß ein Jünger der Kunst mit der Hingabe an diese heilige Macht auch Pflichten übernimmt, daß er gelobt, sein weißes Opferkleid rein zu erhalten. Im Kampf mit all den schweren Versuchungen, welche sich ihm in der künstlerischen Laufbahn nahen, muß er leichten Herzens Sieger bleiben.

Dann wird er in seiner letzten Stunde nicht das Gefühl haben, daß nur noch sein Körper stirbt, da die Seele schon längst erstarrt ist. Er wird vielmehr in freudiger Zuversicht [45] der Gottheit das köstliche, ihm anvertraute Gut, seine Seele, empfehlen und glückstrahlend bekennen, wie herrlich und rein sie sich im Lichte seiner geliebten Kunst gestaltet hat.

Seele werde rein!
Während noch im Leibe du weilst,
Löse dich von Erdenschwere!
Deiner finsteren Stätte
Wechselvolles Los
Laste nicht auf deinem Flügel!

(W. Eigenbrodt)


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