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Stephan Krehl, „Musikerelend“, Teil V

Im Jahre 1912 erschien das Buch »Musikerelend« des Komponisten und Musiktheoretikers Stephan Krehl (1864–1924). Krehl, seit 1902 am Leipziger Konservatorium tätig und von 1907 bis zu seinem Tod Leiter der Institution, stellte dort laut Untertitel »Betrachtungen über trostlose und unwürdige Zustände im Musikerberuf« an. Sie sind polemisch formuliert und geben unmittelbare, heute teils kurios anmutende Einblicke in seine Sicht des Musiklebens, insbesondere mit Blick auf die soziale Stellung der Musiker_innen, in einer Zeit des Umbruchs.

Stephan Krehl (1864–1924):

Musikerelend

Betrachtungen über trostlose und unwürdige Zustände im Musikerberuf

[Teil V]

Leipzig: C. F. W. Siegel [1912].

 [63] 4. Die Musik auf Irrwegen.

»Mit der Kunst geht es bergab! Die große Zeit höchster Blüte ist längst vorüber. Wir befinden uns in der Zeit eines vollständigen Verfalles und steuern einem schlimmen Ende entgegen«.

Solche Klagen hat man in Perioden großer Umwälzungen immer vernommen. Namentlich sind sie stets ein übliches und billiges Vergnügen für Alle gewesen, welche die Entwicklung der Kunst nicht verfolgen konnten. Neuerscheinungen, nicht nur auf künstlerischem Gebiete, stoßen ja im Anfang unbedingt auf Widerspruch. Bieten sie doch soviel zum Nachdenken, zum Beobachten, daß im ersten Moment das Schwerverständliche als Sinnlosigkeit bezeichnet wird. Zudem sind viele Menschen, namentlich in den späteren Lebensjahren zu schwerfällig, um Abschwenkungen vom bisherigen Gang sofort mitzumachen. »Da kann ich nicht mit; das geht über meinen Horizont«, klagt der gealterte Pedant. Währenddem hat der Jüngling ein strittiges Novum längst kritiklos in leidenschaftlichem Taumel begrüßt und verherrlicht. Immer und immer wiederholt sich diese Erscheinung schließlich ohne sonderliches Aufsehen zu erregen. Wahrscheinlich wäre es auch viel sonderbarer, wenn zu Zeiten größerer Wendepunkte der Kampf der Meinungen nicht hin und her toben würde. Die Ruhe, ja vielleicht Öde einer gleichmäßigen kühlen Gesinnung würde befremdlicher als der laute Widerstreit der Meinungen wirken. Lernt doch zudem ein jeder viel mehr aus der wilden Entgegnung des Feindes, als aus der milden Zustimmung des Freundes. Schaden kann es aber nichts, wenn sich die Gegensätze etwas ausgleichen, nicht aus Rücksicht auf die feindlichen Parteien, deren Wohl oder Wehe der Geschichte [64] gleichgültig ist, nein, aus Rücksicht auf die Entwicklung der Kunst selbst. Der zu heftige Widerspruch der älteren konservativen Elemente drängt die fortschrittliche Jugend auf eine falsche Bahn. Die Kunst befreit sich schließlich selbst von allem Unrat, der sich ihr angehängt hat. Aber zeitweise wird ihr Glanz verdunkelt, ihre heilsame Wirkung geschwächt.

Die Älteren tun wirklich besser daran, wenn sie in dem Tanz um den Altar der künstlerischen Erkenntnis den Jüngeren die Hand reichen und sie in ihrem bacchantischen Taumel zu mäßigen suchen, dafür sich selbst aber etwas vorwärts reißen lassen. Schließlich erkennt man auch im tollen Wirbeltanz, daß auf diesem Altar niemals ein Bild von Sais, dessen Eigenart nicht enthüllt werden darf, sondern höchstens ein Heiligenbild, dessen Zeichen schwer zu deuten sind, steht.

Durch Teilnahme an dem Erkenntnisreigen wird ein Jeder unwillkürlich zur Gewöhnung an das Neue gezwungen. Über eine künstlerische Neuerscheinung muß man nicht allein nachdenken, auch gewöhnen muß man sich an sie. So erst können ihre eigenartigen Zeichnungen, ihre sonderbaren Linien der nachfühlenden Seele zum neuen Erlebnis werden.

Wer will bestreiten, daß in der Kunst jetzt alles vorwärts drängt, daß man neue Werte sucht, daß neue Wege, welche zu anderen Zielen führen sollen, eingeschlagen werden? Kann die Kunst von den Wandlungen, welche wir allüberall im Leben beobachten, unberührt bleiben? Ist es denkbar, daß sich die Musik, der herzinnigste Ausdruck menschlicher Empfindungen von den Wechseln des Menschenlebens loslöst? Kein Zweifel, wir leben in einer revolutionären Zeit. Auf religiösem Gebiet, in der Wissenschaft, in der Technik, wo man hinsieht, neue Ansichten, neue Forschungen, neue Probleme. Die Kunst spiegelt nur zu getreu diese Vorgänge wieder. Auch in ihr gärt und kocht es. Neue Gebilde entstehen, von Sensationslustigen jubelnd begrüßt, von konservativen Grämlingen schroff [65] abgelehnt. Sind mit der Zeit die Gegensätze ausgeglichen, dann zeigt sich erst bei ruhiger Überlegung, was wirklich Anrecht auf langes Leben hat. Üble Novitäten, mögen sie mit noch so viel Lärm eingeführt worden sein, vergehen in aller Stille. Der wilde Meinungskampf tobt aus und alles Für oder Wider erweist sich nun als bedeutungslos.

Wir wollen aus vollstem Herzen und mit Dankbarkeit jede Neuschöpfung begrüßen, mit welcher wir wirklich einen Schritt vorwärts tun. Auf das Energischste müssen aber die scheinbaren Kunstäußerungeu zurückgewiesen werden, welche nichts mit der Heiligkeit der Muse zu tun haben, alle unsauberen Produktionen, unflätig im Geist, unrein in der Technik, kurzum jene Bestrebungen, welche nur scheinbar fortschrittlich sind, in Wahrheit aber lediglich das wunderbare Gebäude unserer Kunst zu besudeln und zu unterminieren drohen.

Mit möglichster Schnelligkeit Neuerscheinungen richtig einschätzen zu lernen, das wird von der größten Tragweite sein. Wie empfindet man das doch beim musikalischen Unterricht. Stellen sich rückschrittlich gesinnte Lehrer durch unmotivierte Absprechungen neuer Schöpfungen zur fortschrittlichen Jugend in schroffen Gegensatz, so entfremden sie sich nicht nur die Schüler, sie machen auch den Wert des Unterrichts, der sich doch auf gegenseitiges Vertrauen stützen soll, illusorisch.

Ist es denn schließlich für den gebildeten Musiker so schwer, Vorzüge und Fehler einer Neuerscheinung festzustellen? Gewiß, nach dem ersten Anhören kann man keine definitive Kritik üben. Es bedarf einer Zeit, um das Musikstück kennen und würdigen zu lernen. Ist dieselbe aber geopfert worden, so muß es doch möglich sein, klar die Situation zu überschauen. Kümmern wir uns nicht um die Behauptung, daß in neuen Werken die Autoren die bisher gezogenen Grenzen überschreiten und eine vom üblichen abweichende Begutachtung für sich fordern. Das sind nur Ausflüchte, um jeder Bekrittelung [66] zu begegnen. Solange die Werke das übliche Material benutzen und mit den bewährten Mitteln arbeiten, kann und muß man auch die seit lange begründeten Gesetze der Logik, der Schönheit anwenden können. Schwierig allein eigentlich ist es, Form und Inhalt im Verhältnis zu einander, in ihrer gegenseitigen Bedeutung strikte zu würdigen. Denn mitunter gebärden sich die Komponisten in ihren Schöpfungen so sonderbar, daß der Hörer im ersten Moment vollständig frappiert wird und, sei es ob abgestoßen oder angezogen, eine große Originalität zu bemerken glaubt. Phantastische Naturen lassen sich willenlos in Banden schlagen und zur Bewunderung hinreißen. Eine Zahl sonderbarer Schwärmer nimmt stets nur zu gern alle Neuigkeiten gläubig hin und macht die Unparteiischen durch ödes Geschrei irre. Rechenschaft über die Konstruktion der Werke wird nicht abgelegt. Es entsteht nur Staunen über die scheinbar unglaubliche neue Ausschmückung des Aufbaues. An Kraft zur Beurteilung, ob die Neuheit nur in äußerer Allüre oder in innerer Umgestaltung besteht, gebricht es den Schwärmern in den meisten Fällen vollständig.

Sie beachten gar nicht, daß es der Kunst wie der Menschheit selbst geht. Der Mensch verändert sich nicht in einem neuen Gewände. Das Menschlich-Allzumenschliche bleibt ihm anhaften, solange er aus dem Mutterleibe geboren wird und die Erbsünde in ihm steckt. Die Musik, ein Spiegel der menschlichen Leidenschaften und Gefühle, hängt zu innig mit dem Menschengeschlecht zusammen, als daß sie sich in ihrem Grundprinzipien wandeln könnte. Mögen in den verschiedenen Nationen noch so mannigfaltige Erscheinungen der Gefühlswelt vorhanden sein, immer kehren bestimmte Momente wieder, nach denen eine Schematisierung erfolgen kann. In der Musik herrscht einmal Vorliebe für Mehrstimmigkeit, einmal für Einstimmigkeit, bald wird der Durdreiklang, bald der Molldreiklang bevorzugt. Stets kommen wir auf die Grundlage: Dur- oder Mollsystem zurück. [67] »Auch die absolut einstimmige Melodie hört zweifellos der Hörer von heute, wahrscheinlich aber der Hörer aller Zeiten im Sinne von Harmonien (Tonkomplexen). Die beiden einzigen Arten aber, in deren Sinn man einzelne Töne so gut wie zwei-, drei- und mehrtönige Akkorde hören kann, sind der Durakkord und der Mollakkord«. (Hugo Riemann.)

Im Laufe der Zeit haben sich nun allerdings in den Dur- und Mollsystemen die dissonierenden Zusammenstellungen beträchtlich geändert. Die Beurteilung dissonierender Töne ist mit der Zunahme allgemeiner freier Lebensanschauungen entschieden eine andere geworden. Melodische Linienführungen, rhythmische Anordnungen gestalten sich ungezwungener. Die Temperierung der Instrumente, die Verfeinerung der Technik ist nicht ohne Einfluß auf die musikalische Sprechweise gewesen. All die Wandlungen sind gewiß nicht gering. Schließlich entsprechen sie aber doch nur den Einkleidungen. Die Grundeigenart, das Elementare ist unverändert bestehen geblieben.

Spüren wir zunächst dem leitenden Gedanken, welcher ein ganzes Musikstück durchzieht, nach. Von einer Symphonie, ja von einer Oper läßt sich ein Auszug herstellen. Die wesentliche melodische Linie, die nun aus dem Auszug, den sie wie ein roter Faden durchzieht, herausgenommen werden kann, ist das Eigentümliche, das Charakteristische, dasjenige, was vornehmlich in der Erinnerung haften bleibt. Beethoven hat in seinen Skizzenbüchern einen Sonatensatz, einen Symphoniesatz meist in einstimmigem Verlauf angedeutet. Diese gedrängte Inhaltsangabe ist für jedes Musikstück hoch bedeutsam. Der Gesamteindruck davon muß treffend und schön sein, mögen Einzelheiten auch gar nicht übermäßig originell klingen. In so vielen neuen Werken ist nun diese melodische Hauptlinie betrübend armselig, erschreckend öde, häufig sogar bedauernswert ungeschickt. Durch absonderliches Verfahren in Einzel[68]heiten suchen die Komponisten dann die Schwächen in der Grundgestaltung zu verdecken. Da werden Stimmführungen gebracht, welche den Hörer einen Augenblick in Staunen setzen. Solche Verplüffung [sic] in Einzelheiten ist aber nichts anderes als Unkenntnis, Ungeschick in der großen Arbeit. Wie unendlich viele neuere Klavierstücke sind voll von Torheiten aller Art. Von wahnwitzigen Verteidigern des Modernismus wird das als Stimmungseigenart gepriesen. Ja, muß man denn roh werden, wenn man in Stimmung kommt? Das sind doch nicht die angenehmsten Zeitgenossen, die sich in Stimmung von ihrer schlechten Seite zeigen! Mag sein, daß in der Klaviermusik der Satz gerade extra lässig behandelt wird, während der Orchestersatz für größere Sorgfalt zu sprechen scheint. Im Orchestersatz täuscht aber doch die verschiedenartige Klangfarbe über vielerlei hinweg.

Kompositionslehrer können da aus ihrer Praxis von sonderbaren Sachen berichten. Häufig genug sagen jetzt Schüler, daß sie nicht geneigt seien, einfache Klaviersachen zu schreiben. Der Satz für großes Orchester, das sei ihr Fall, da würden sie sich wohl fühlen und wirklich komponieren können. Faktisch schreiben dann auch Leute, die nicht imstande sind, einen vierstimmigen Satz garantiert fehlerfrei herzustellen, nicht übelklingende Orchesterwerke. Betrachtet man freilich die Partituren in ihren Einzelheiten, so finden sich genug Fehler in der Stimmführung. Im Grunde sind es dann dieselben Versehen, welche auch dem Klaviersatz anhaften. Im Strudel des modernen Orchesterklanges gehen alle Mängel unter, ebenso wie falsche Stimmen im großen Chor nicht gehört werden. Mangelhafte kontrapunktische Durchbildung trägt hier die Hauptschuld.

Gute Musikstücke sollen sich durch Selbständigkeit in der Stimmführung auszeichnen. Die plumpe Art der Fortschreitungen, wie sie in früherer Zeit mitunter bei harmonischen Stücken zu beobachten war, galt neuerdings als Zeichen einer Unkultur.

[69] Selbst in dem einfachsten Tanzstück bestrebte sich der Komponist, eigenartige Bewegungen durchzuführen. Die wundersamen lyrischen Stücke, welche wir den Meistern der romantischen Schule verdanken, sind wohl in erster Linie in melodischer und harmonischer Hinsicht bedeutsam. Bewundernswert an ihnen bleibt aber gleicherweise die Exaktheit in der Stimmenführung. Daß die Segnungen der kontrapunktischen Schreibweise allen Zweigen der Tonkunst zugute kommen, muß doch wahrhaftig als ein wesentlicher Fortschritt der Musik des 18. und 19. Jahrhunderts bezeichnet werden. Die feine Zeichnung in einem Kunstwerk ist nicht nur ein Beweis für das Können des Schöpfers, sondern auch ein Schönheitszeichen, auf dessen Vorhandensein der verständige Hörer keinesfalls verzichtet. Beim Studium des Kontrapunktes wird deshalb in der neuesten Zeit scharf betont, daß es sich nicht etwa um die Pflege irgendeiner Spezialität, sondern einer jeden vernünftigen Musik handelt. Alle Vorschriften der freien Komposition für Melodiebildung, Harmonisierung, rhythmische Gestaltung, sind ohne wesentliche Einschränkung auch für den Kontrapunkt maßgebend. Hier wie dort dreht sich ja alles doch nur um musikalischen Aufbau.

Absonderliche Tonsetzer beginnen in allerneuster Zeit mit einem Male von dem schönen Brauch, sich des Kontrapunktes allenthalben zu bedienen, abzuweichen. Und zwar versehen sie nicht nur illustrierende Stücke, sondern auch Stimmungspoesien mit unglaublichen Roheiten des Satzes. Für gewisse beabsichtigte naive Schilderungen möchte ja der Verzicht auf Selbständigkeit in der Stimmenführung noch hingenommen werden. In einem Opus, welches »Tanz der Zentauren« oder »Lappländischer Hochzeitsreigen« überschrieben ist, läßt man in kindlichem Vergnügen zugunsten der urwüchsigen Zentauren und Lappländer gar mancherlei passieren. Das erscheint dann wohl äußerlich programmatisch erklärlich, ist jedoch innerlich musikalisch ästhetisch schwer zu rechtfertigen. Jedenfalls aber [70] gehören in ein Präludium, in eine Sarabande oder sonst in ein elegantes Tanzstück Unfeinheiten des Satzes niemals hinein. Wie kann ein Tonsetzer sich so aller musikalischen Kultur begeben? Macht er das aus krasser Unkenntnis oder aus widerwärtiger Reklamesucht? Will er zeigen, daß die Musik vorwärts gebracht wird, indem man ihr die Schönheit nimmt? Dem Kenner und Verehrer kontrapunktischen Stils wird es nach scharfem Eindringen in den Geist einer Komposition nicht schwer fallen zu erkennen, wie weit die Vernachlässigung der Stimmführung mit Unebenheiten der melodischen Linie Hand in Hand geht. Die Irrwege, auf denen hier die Neuerer vorwärts kommen wollen und doch nur zurückschreiten, sind nicht schwer zu verfolgen.

Ein großer Irrtum ist es entschieden auch, wenn neuerdings so häufig auf natürliche Melodie vollständig Verzicht geleistet wird. Mag der Dilettant noch so oft in süßem Verzücken flöten: »Ach, die Melodie!« Der modernste Komponist flucht eben doch: »Pfui, die Melodie!« Unsere musikalische Erziehung hat das Ihrige dazu beigetragen, den Sinn für Melodie nicht zu wecken. Lange Zeit wurde Harmonie und Kontrapunkt überhaupt losgelöst von allem Melodischen betrieben. Von einer gesonderen [sic] Melodielehre war nicht die Rede. Der Musikschüler erfuhr eine Menge Sachen von Akkordverbindungen aller Art, von Bewegungen der Stimmen mit und gegeneinander, von der Schönheit motivischer Entwicklung dagegen nichts. Ist es da ein Wunder, wenn er entweder dachte, die Melodie sei ein Gnadengeschenk, welches die Natur wenigen Auserwählten mit auf den Lebensweg gegeben hat, oder wenn er die Beschäftigung mit der Konstruktion der Melodien für etwas Überflüssiges hielt. Auch hat hier das unverzeihliche Cliquenwesen der letzten Jahrzehnte viel Schaden gestiftet. Der Neuling heult in der Clique mit, weil es einmal so Sitte ist und weil er dafür belohnt und protegiert wird. Immer von neuem hören [71] und sehen wir es ja, wie in einer großen Koterie die Verachtung der Hauptvertreter der romantischen Schule großgezogen wird. Die Jugend hält man von der Beschäftigung mit den Werken unserer großen Romantiker ab, von vornherein verekelt man ihnen die Schöpfungen. »Die Lieder ohne Worte von Mendelssohn, an denen Geschlechter sich den Geschmack verdarben, singen und sagen uns nicht mehr viel«. Wie ist aber gerade in diesen Stücken das Melodische, Harmonische und Kontrapunktische abgerundet! Mendelssohn’sche Eigentümlichkeiten nachgeahmt wirken gewiß nicht immer gut. Da darf man aber nicht dem Urheber, sondern muß dem Nachahmer einen Vorwurf machen. In Isoldens Liebestod sind wohl die Vorhaltstöne, die Doppelschläge bei Steigerung über den langen Quartsextakkorden von treffender Wirkung. Nachgeahmt wirken diese Sachen noch viel schlimmer als die Nonenklänge von Mendelssohn.

Wohin der Verzicht auf die Melodie in so vielen ernst gedachten Werken der neueren Zeit führt, sehen wir nur zu genau in der Geschmacksrichtung des Publikums. Die Leute hören geduldig die tiefsinnigen, eventuell auch stumpfsinnigen, großen modernen Orchesterwerke an. Die Kompositionen sind mode [sic]; da darf man seinen Unwillen nicht laut werden lassen, sonst stellt man sich bloß. Im Geheimen aber freut sich der scheinbar so tief berührte Konzertbesucher schon auf die nächste Operette, in der es wieder einmal natürlich und ungezwungen musikalisch, melodisch hergeht. Der geradezu fabelhafte Erfolg der Operette in jüngster Zeit wäre wohl nicht denkbar, wenn Spielopern, komische Opern, Singspiele guter Konstruktion in größerer Zahl entständen. Spielopern wollen die Komponisten aber nicht schreiben, denn da läßt sich nichts Sensationelles, Schlüpfriges oder Perverses anbringen. Und ohne solche Sachen darf es doch in einem »anständigen« Theaterstück nicht abgehen. Einer geht dem andern mit dem guten Beispiel voran.

[72] Was für seltsame Vorbilder, bizarre Idole hat die Jugend jetzt! Womit begeistert, oder besser gesagt, woran entgeistert sie sich? Das Verständnis für das Leben der Kunst und die Kunst des Lebens fehlt ebenso wie die Freude am Leben. Kurzerhand bereiten oft unreife Menschen diesem Jammerdasein eigenmächtig ein Ende. Mit Sicherheit läßt sich erwarten, daß bei einem jugendlichen Selbstmörder ein Band Nietzsche gefunden wird. Er ist mit dem Bekenntnis gestorben: »Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil ich will«. Würden diese Lebensverächter es doch lieber für das beste erachten: »im Kampfe zu sterben und eine große Seele zu verschwenden«. Ach, eine große Seele ist bei diesen Menschen nicht zu finden; hier hat sich nur eine kleine kranke Seele müde hingeschleppt.

Junge Komponisten tragen nun nicht nur unverstandenen Nietzsche, sondern auch noch unverstandenen Hugo Wolf mit sich herum. Die Werke zweier Sonderlinge, die leider so früh in Geisteskrankheit verfielen, betören die Jugend nur zu rasch. Falsch verstanden richten dieselben eine heillose Verwirrung an. Von Wolf werden natürlich die krankhaften Werke, die rein musikalisch absolut nicht als seine besten Schöpfungen zu gelten haben, als Grund, auf welchem man weiter aufbaut, genommen. Für die Liedkompositionen hegen ja alle jungen Komponisten eine aufrichtige Begeisterung. Publikum und Verleger haben nicht viel Interesse an den einstimmigen Liedern. Von der großen Zahl veröffentlichter Nummern sind nur ganz wenige wirklich gangbar. Gedichte zu vertonen ist aber ein herrliches Vergnügen. Da läßt man seiner Phantasie so ungehindert die Zügel schießen. In musikalischen Gefühlen wühlen, welch ein herrliches Pläsier! Ehemals wurden in der musikalischen Formenlehre verschiedene Liedformen unterschieden. Für die neuere Zeit ist diese Bestimmung durchaus hinfällig geworden. Lieder modernster Tendenz haben keine musikalische Form mehr. Die harmonisch-melodische Ge[73]staltung wird lediglich durch den Text bestimmt. Ehedem galt es für wünschenswert, auch bei Verbindung von Wort und Ton die musikalische Linie verständig zu führen. Neuerdings wird auf solches Prinzip verzichtet. Die Musik übermalt nur noch den Text. Den Intentionen des Dichters folgt sie häufig zeilen-, ja wortweise und kümmert sich nicht um logische musikalische Entwicklung oder um symbolische Ausdeutung des textlichen Inhaltes. Verblüffende Harmonien fügen sich blindlings aneinander, das ist alles.

Hätte die moderne Poesie nun wenigstens eine geschlossene Form, dann würde die Musik sich ja auch natürlich anordnen. Wir finden gewiß in neuester Zeit eine Zahl poetischer Eingebungen in abgerundeter Form, trefflich geeignet zur musikalischen Ausführung. Die eigentlich Modernen aber, welche nicht mehr »im Kotau vor Goethe liegen«, bringen neue, ungewöhnliche Formen. In dem Bestreben, originell zu sein, kommen sie zu den sonderbarsten Resultaten. Texte entstehen, die mindestens zum Vertonen ungeeignet sind. So wird »die Dämmerung« neuerdings in folgenden Worten geschildert [Alfred Lichtenstein, Die Dämmerung, 1913]:

Ein dicker Junge spielt mit einem Teich,
Der Wind hat sich in einem Baum gefangen,
Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.

Auf langen Krücken schief herabgebückt
Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme,
Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt,
Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.

An einem Fenster klebt ein fetter Mann,
Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen,
Ein grauer Klown zieht sich die Stiefeln an,
Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen.

Jede Zeile bringt eine neue Situation, eine neue Stimmung. Mag auch die Überschrift »Dämmerung« eine Gesamtstimmung vortäuschen; an einen inneren Zusammenhang ist nicht zu [74] denken. Wenn sich die Musik nun bei einer Vertonung eng an die Dichtung anschließt, dieselbe, möchte man sagen, Wort für Wort illustriert, so wird sie versuchen, erst mit einem Teich zu spielen, dann sich in einem Baum zu fangen, über das Feld zu hinken, über eine Dame zu stolpern und, nachdem sie graue Stiefel angezogen hat, mit dem Hunde zu fluchen. Was muß das für eine Musik geben! Unbeschreibliche Idee!

Über die Formlosigkeit, in der sie sich hier äußern können, sind die jungen Komponisten aber überaus beseligt. Das ist ihr Element. Ob die Sache künstlerisch ästhetisch gerechtfertigt werden kann, darauf kommt es ja gar nicht an. Bleibt doch die Hauptsache bei allem: verrückt, originell. Das mag nun aber alles noch gehen, wenn die Sinnlosigkeit der Musik durch den Text begründet wird. Böse sieht die Sache erst bei Übertragung dieses Kompositionsprinzips auf textlose Musik aus. Dann gibt der Komponist bald Gefühle wieder, bald illustriert er einen Vorgang. Jetzt schildert er naturgetreu, um sofort darauf symbolisch zu vertonen. Ein Durcheinander entsteht, ein Vermischen verschiedenartigster Elemente, das den Zuhörer durchaus unzufrieden und verwirrt macht.

Die größte Verwirrung hat freilich beim Komponisten geherrscht. Mutet er doch der Musik Sachen zu, die sie einfach nicht imstande ist, zu leisten. Aber da mangelt es eben zu häufig an der Einsicht, daß für eine Menge von Erscheinungen tonliche Symbole nicht gefunden werden können. Wenn auch ein Titel, eine ganze textliche Vorrede auf den Inhalt der Musik hindeutet, das Verständnis wird doch nicht gefördert, solange der innere musikalische Zusammenhang fehlt. Der Musik werden jetzt aber nicht nur sonderbare Sachen zur Darstellung zugemutet, auch die Mittel zur Wiedergabe werden häufig total verkannt.

Bewegung ist Ausdruck. Harmonische, melodische, rhythmische, dynamische Wechsel stehen als die wesentlichsten Mittel zur musikalischen Darstellung zur Verfügung. Jeder Wechsel, jede [75] Bewegung vermag doch aber nur von einem Ruhepunkt aus gefaßt zu werden. Bewegungen wirken nur im Gegensatz zur Ruhe, Gruppen nur gegen Einzelerscheinungen. Phantasten konstruieren jetzt melodische Linien im Zickzack ohne Anhalten, Rhythmen in vollständigem Wirrwarr, Harmonisierungen in Dissonanzketten ohne Auflösung.

Ein Musikstück, in Folgen von Dissonanzen unter Vermeidung aller Konsonanzen aufgebaut, ist eine ästhetische Unmöglichkeit. Die Literatur weist wohl Werke dieser Art auf. Man möchte solche Musik mit einem Drama vergleichen, in dem eine Unzahl von Persönlichkeiten auftritt. Niemand aber vermag bedeutungsvoll zu wirken, keine großzügige Handlung kann entstehen, weil stets jede unmotiviert neu auftretende Persönlichkeit unmotiviert die bereits auf der Bühne Agierende totschlägt. Niemals eine Einführung, niemals eine Begründung. Hat das noch einen Sinn? Woraus will man zu einem solchen Vorgehen die Berechtigung ableiten? Es ist doch kein alter Zopf, daß in der Musik die Einheit des tonischen Dreiklangs gewahrt wird. Wer will eine Modulation, die doch Ausdruck sein soll, verstehen, wenn kein Ausgangspunkt, kein Ziel zu sehen ist? Hat ein musikalischer Satz, der nicht durch eine Kadenz gegliedert und gefestigt wird, Logik? Durch Gegensätzlichkeiten allein wird der Ausdruck in den Bewegungen verstanden. Der Tag ist nicht wirksam ohne Nacht, das Gute schätzen wir nur mit stillem Grauen vor dem Bösen. Wenn die Musik wirklich Gemütszustände schildert, dann ist eine Komposition voller Dissonanzen das Abbild eines kranken, eines nervös überspannten Gemüts, aus dem alle Ruhe gewichen ist. Wer aber wünscht sich in der Musik Symbole für Gemütsleiden zu finden?

Ein Kapellmeister Moroni soll wohl versucht haben, in einer symphonischen Dichtung »Influenza« alle Stadien dieser Krankheit bis zur völligen Appetitlosigkeit und dem schwersten Fieberanfall zu schildern. Der Himmel bewahre uns aber vor [76] ferneren derartigen Krankheitssymphonien, namentlich wenn sie Magen- und Darmleiden betreffen. Krank ist in solchem Falle wiederum nur der Komponist, der sich einbildet, in Tönen dergleichen schildern zu können.

An diese Auswüchse braucht aber gar nicht gedacht zu werden. Es genügt vollständig, lyrische Stellen, ruhige Themen aus modernen Werken in Betracht zu ziehen. Schon da zeigt sich diese sonderbare Unstetigkeit, die Hast, dieses ungesunde neurasthenische Hin- und Herschwanken in den Tonarten. Man will und vor allem man kann nicht einfache Melodiebildung in der Tonart herstellen. An Stelle davon tritt ein unschönes Durcheinander von Harmonien. Die Angst, einmal etwas Bekanntes zu wiederholen, ist so groß, daß ein jeder vorzieht, manieriert zu werden. Haben denn die großen Meister der Tonkunst immer nur Neues gebracht? Ihnen wird nur – das ist allerdings eine gewisse Ungerechtigkeit – ein Nachempfinden nicht zum Nachteil angerechnet. Schreibt jetzt ein Musiker eine Melodie, erst mit Terzen, dann mit Sexten begleitet, sofort heißt es: Potztausend, wie kann der so unoriginell sein, das ist ja durchaus brahmsisch. Brahms hat gewiß diese Manier gern und häufig benutzt. Sie ist doch aber ebenso bei Schubert, bei Beethoven und anderen schon anzutreffen. Der Beginn einer Melodie mit Sprung von der Terz der Tonika zur Terz der Dominante und Auflösung nach dem tonischen Grundton wird stets als ein Abschreiben des Anfangs vom Preislied aus den »Meistersingern« verurteilt. Wagner hat doch aber diese Stelle nur Beethoven und dieser wieder Ph. E. Bach oder sonst jemand nachempfunden. Das lästige Herausstechen kleiner Eigentümlichkeiten aus Kompositionen führt zu gar nichts. Das ist eine müßige Beschäftigung von Eintagskritikern, denen an neuen Werken nichts anderes auffällt, als was ihnen gerade anklingt. Melodische Motive müssen sich eben wiederholen, solange wir mit unserem geringen Tonmaterial arbeiten. Die [77] Hauptkunst besteht ja darin, aus den Motiven Sätze zu bilden. Mögen alle, welche aus Angst bekannte Blüten darzureichen, einen Melodienstrauß nicht geben wollen und statt dessen das Unkraut der Dissonanzen bringen, bedenken, daß auch unter dem Unkraut sich nicht immer etwas Neues finden läßt. Sicherlich überrascht die moderne Häufung von Dissonanzen im Augenblick und blendet. Als Ausdruck ist sie an lyrischen Stellen nur zu häufig durchaus verfehlt. Ein Schlummerlied, das einem Kind zur Beruhigung beim Einschlummern gesungen werden soll, vollgepfropft mit dissonierenden Klängen, wirkt so aufregend und beunruhigend, daß das bißchen Schlaf, welches eventuell schon vorhanden war, vollständig verscheucht wird. Ein Menuett, mit Folgen bizarrster Harmonien, gestaltet den gravitätischen Tanz zu einem ganz exzentrischen Cancan. Die Verwendung unglaublichster Klangwechsel und Modulationen an den lyrischen Stellen von Sonatensätzen zeigt nur, daß der Komponist sich von der nervösen Unruhe der Zeit nicht freizumachen imstande war, daß er es nicht über sich gewann, in Ruhe vornehmen und edlen Empfindungen Raum zu geben. Wie ein gehetzter und gequälter Sünder erscheint er, verfolgt von einem wilden Durcheinander häßlicher und böser Empfindungen.

Nur für wenige Menschen ist die harmonisch gequälte Musik der neueren Zeit wirklicher Ausdruck. Das sind die Nervösüberreizten, die Überempfindlichen, die leicht Gemütskranken. Viel häufiger ist die musikalische Unnatur Marotte, Pose oder Neuerungssucht. Einfach, weil behauptet wird, es ließe sich nicht mehr so wie früher komponieren, wird in törichter Weise in Akkorden gesündigt. Die Behauptung, daß nicht mehr wie früher komponiert wird, kann man wohl gelten lassen, wenn damit gemeint ist, daß gar viele nicht mehr die sublime Kunst des Komponierens besitzen. Der Nachweis, daß Melodie, Satzbildung, Entwicklung zu geschlossener Form unmodern sind, der müßte doch erst erbracht werden. Dilettantische Kunst[78]beflissene sehen in dem Aufgeben der Form – das ist der springende Punkt – ein bequemes Mittel, die Unfähigkeit in der Handhabung der strengen Form zu verdecken. Nicht nur in der Musik können wir das jetzt beobachten; jede Kunstbetätigung weist Erscheinungen gleicher Art auf. In der Malerei begnügen sich die Künstler damit, Farben nebeneinander zu stellen. Zeichnung, Form, das sind überwundene Dinge. Allerhöchstens deuten schwache Konturen auf etwas Greifbares hin. Die malerische Schöpfungsgeschichte lautet:

»Im Anfang war das Chaos und aus dem Chaos wurden Kleckse. Und der Maler gab den Klecksen einen Sinn.« So entgeht man der schwierigen und mühsamen Zeichnerei. Und gleicherweise ist ja für den modernen Dichter die Formlosigkeit das Ideal. Logik, Metrik, Sprachschönheit usw. das sind alte Dummheiten. Neuerdings faßt man die Sache anders an. Hört doch, wie ein moderner Dichter von seinem wilden Pegasus aus die Frage nach dem erlösenden Glück beantwortet [Friederike Kempner, Der der, das das, die die]:

»Wie, fragt ihr, wie?
»Wer macht dich frei?
»Es ist die die
»Die Poesei!

Die holde Dichtkunst scheint freilich unserem Dichter nicht durchaus die glückliche Freiheit bei seiner Beschäftigung gebracht zu haben, denn in der Nacht wird er von folgenden Gedanken gepeinigt [ebenfalls von Friederike Kempner]:

Einsam wachend lieg’ ich im Bette,
Wo selbst doch Mörder ruh’n,
O, daß ich nur Gutes begangen hätte!
Ob Mörder Gutes tun?
Ob Mörder ein Gewissen haben?
Nur Gott es weiß –
Sind Nachtigallen gleich die Raben?!
Mein Bett ist weiß…

Wie herrlich muß es sein, wenn diese Worte modern charakteristisch in Musik gesetzt werden. In feinster Manier ist das [79] Motiv des Dichters mit dem des Mörders zu verknüpfen. Die Nachtigallen und Raben haben sich vorzusehen, daß sie nicht das weiße Bett beschmutzen. Schwer zwischen alledem fällt es, Gott musikalisch zu bedenken. Doch darüber braucht sich der Musiker keine Sorge zu machen. Die neue Kunst verfährt ja mit dem lieben Gott nicht sehr rücksichtsvoll. So wird er z. B. von einem Dichter als Bettler in Berlin N. geschildert, als armer Schlucker, der sich mit Tränen für einen ihm in den Hut geworfenen Groschen bedankt. Rührende Worte allein findet der Dichter, um zum Schluß den Abgang des also beglückten Gottes zu schildern [Arno Holz, 1916]:

Dann hängt er sich zitternd in seine Krücken,
drückt gegen das rechte Nasloch den Daumen, schneuzt sich
und humpelt durch blühenden Flieder und Goldregen,
verfolgt von den Kindern,
schräg über den Damm hinter den Droschkenstand
in die nächste Destille.

Ach wie viel humpelt jetzt nicht in die Destille und kommt in den Dunstkreis, der ihr gleicht. Die Musik nimmt, wie die anderen Künste, Gewohnheiten höchst sonderbarer Art an. Viele Leute lachen darüber und nennen das mit Naserümpfen »modern«. Es ist aber nicht zum Lachen, zum Weinen ist es. Nur mit tiefer Trauer vermag man solchen Verirrungen in der Kunst zuzusehen. Die Kunst ist, das merken so viele Kurzsichtige gar nicht, wirklich nicht mehr eine vornehme und edle Herrin, sondern eine schmutzige Magd, eine verdrehte und ehrlose Person.

In der Musik ist man auf Irrwege leider gar häufig auch durch Mißverständnisse gekommen. Zu welchen Mißverständnissen haben doch irrige Auslegungen der Werke von Beethoven, der Werke von Liszt geführt.

»Beethoven konnte sich nicht mehr durch Instrumentalmusik aussprechen, er bedurfte, wie die neunte Symphonie zeigt, des Wortes. Nun mußt du doch auch in deinen Werken Solo[80]stimmen und Chöre verwenden; du bist doch viel fortgeschrittener als Beethoven«. So sagt sich in richtiger Selbsterkenntnis manch moderner Komponist.

Ob der Text einen Zusammenhang mit der übrigen Musik hat oder nicht, darauf kommt es ja gar nicht an. Die Hauptsache bei allen ist der Effekt. Etwas muß man der Menschheit natürlich entgegenkommen. In einen Satz wird unbedingt ein christlicher Choral eingeflochten. Der wirkt stets gut und macht bei dem besseren Publikum einen soliden Eindruck Die Jugend und die modernen Übermenschen werden dann mit etwas Nietzsche, etwas unverstandenem »Zarathustra« entschädigt. So wird der unzeitgemäße Beethoven überboten. Unzeitgemäß? Ja, unzeitgemäß, weil er viel zu viel Musik machte.

Und nun auch der Liszt! Er hat denselben Fehler wie Beethoven begangen. Durch die Wahl zu allgemeiner Titel für seine symphonischen Werke wurde er veranlaßt, melodische Musik zu schreiben. Bisweilen gab er wohl dem Zuhörer zum Verständnis nicht nur eine Überschrift sondern ein voll ständiges Gedicht. Viel zu sehr war er aber immer bestrebt, die einzelnen Momente tonsymbolisch auszulegen, er schrieb Melodien. Wer sich noch untersteht, Melodien zu schreiben, der wird boykottiert, erklären Überkluge. Die Musik ist vorgeschritten genug, sie vermag jetzt Sachen zu schildern, wie sie sind, gleichgültig ob sie sich mit Vorgängen aus der Natur oder etwa Handlungen von Persönlichkeiten beschäftigt; nicht nur Gefühlsmomente, nein Denkakte, Schriften ihrem Inhalt nach erläutert sie uns.

Uns ist ein Musiker bekannt, Tonathlet oder Musikschweizer nennen wir ihn scherzweise, der seit 3 Jahren an einer Riesensymphonie: »Die Bibel« arbeitet. Bis jetzt ist er aber nicht über die Vertonung des zweiten Verses, Buch Mose 1, Kapitel 1, hinausgekommen: »Und die Erde war wüste und leer«. Die Schilderung des Chaos in Dissonanzen unglaublichster Zu[81]sammenstellung, mit Instrumenten verwegenster Art fesselt ihn dermaßen, daß er diesen, doch eigentlich vorbereitenden, Teil mehr und mehr ausdehnt. Auch kann er sich nicht entschließen, den 3. Vers: »Es werde Licht« zu komponieren. Für die Lichtschilderung wird ein Dreiklang nicht zu umgehen sein, das fühlt der Bedauernswerte. Den Dreiklang aber haßt er wie den Tod. So wächst einstweilen die Schilderung des Chaos. Herrliche Nummern entstehen da: »Reigen des Urschleims«, »Protoplasmatisches Ständchen«, »Intermezzo Zellensonderung« usw. Wir haben dem Tonpoeten, damit die Arbeit endlich einmal avanciert, geraten, die Bibel nicht in Totalität, sondern nur in einzelnen Teilen zu schildern. Vom Chaos wäre direkt zum Sündenfall, dem Brudermord und der babylonischen Verwirrung überzugehen. Genug damit vom alten Testament! Die Propheten dürften am besten durch die Klagelieder Jeremiä, die Apokryphen durch den Gesang der drei Männer im Feuer zu charakterisieren sein. Als Abschluß wäre dann aus dem neuen Testament die Offenbarung Johannis herauszugreifen. Und das alles nur durch Dissonanzen, ohne störende Dreiklänge! Der Phantast ist nun selig, nach diesem Vorschlag sein Werk zu Ende führen zu können. Er lebt in dem sonderbaren Wahn, die Bibel auf diese Art glänzend musikalisch wiederzugeben. Im Grunde genommen ist die Musik hier weiter nichts als eine abstruse Sammlung scheusäligster Kakophonien. Der Reigen des Urschleims gewährt vielleicht allein vergnügliche Momente. Schließlich erachtet der Hörer diese Nummer als für die Bibel bedeutungsvoll.

Welch leuchtender Blödsinn! Ist etwas Sinnloseres denkbar?

Der Musik werden Sachen zugemutet, die sie niemals zu leisten imstande ist. Bei den mißglückten Versuchen bleiben die Tonsetzer an Nebensächlichkeiten hängen; bedeutungslosen Dingen, die zwar gerade zur musikalischen Wiedergabe geeignet sind, mit der Grundidee des Werkes aber nur neben[82]sächlich zusammenhängen, wird der Vorzug gegeben. Zu welchem Zweck wird überhaupt etwas in Tönen geschildert, was bereits in Worten viel besser und ausführlicher erzählt und erklärt worden ist. Entschieden soll die Poesie überboten werden. Und die Musik ist zu solchem Übertreffen gar nicht fähig. Sie vermag nicht alles zu berichten und zu durchdenken, wie es in einer gewöhnlichen Umgangssprache möglich ist.

Die Jugend glaubt, nicht nur die geschwätzigen Schwachköpfe der Romantik überholt zu haben, sie dünkt sich auch über die Klassiker, über einen Wagner, einen Liszt erhaben, kurz über alle jene Meister, denen wir herrliche Musik, wundersame Melodien verdanken. Die Klassiker haben für alles, was ihnen musikalisch ausdruckswert erschien, tonliche Symbole gestaltet und dadurch eine Musiksprache entstehen lassen, innig und wahr, formvollendet und schön, bei welcher sich Inhalt und Form in kongenialer Art decken.

Die Wut der musikalischen Anarchisten richtet sich nicht nur gegen die Melodie, sondern auch gegen die Form. Die üblichen musikalischen Formen sollen modernen Ansprüchen nicht mehr genügen. Ganz gut! Wenn die Form nicht mehr wie früher in Anwendung kommen kann, so wandelt man sie eben um. Hat nicht jener Beethoven, den manche für überwunden halten, zu dessen richtigem Verständnis sie aber noch nicht einmal vorgedrungen sind, uns in seinen letzten Quartetten gezeigt, wohin neue Wege führen können. Das kümmert ja aber die Leute nicht; denn leider hat Beethoven auch dann, wenn er neue Wege wandelte, noch Musik gemacht. Das war ein seniles Zeichen bei ihm. Ihm fehlte die bewußte Idee, das Programm, durch welches den Tonkomplexen erst die richtige Form, der Sinn gegeben wird.

Muß denn die Musik ihres ureigensten Wesens entkleidet werden, um wirken zu können? Ließe man doch endlich einmal diese törichte Bezeichnung Programmusik bei Seite. Es [83] existiert ja keine vernünftige Musik, die nicht ein Programm hat. Mag ein solches auch nicht verzeichnet sein, so steckt es doch in einer geordneten Musik darin. Was soll das heißen, »absolute Musik«? Wer hat schon Töne erklingen hören, die nicht absolut gewesen sind. Mit diesen Bezeichnungen wird in der Musik jetzt ein derartiger Unfug getrieben, daß Uneingeweihte wirklich glauben, es gäbe zweierlei Art Musik. Dilettantische Konzertbesucher sind wohl der Meinung, dann Programmusik zu vernehmen, wenn ihnen beim Eintritt in den Konzertsaal ein Programmbuch verabreicht worden ist. Darüber freuen sie sich doch nun aber nicht der Musik wegen, sondern weil sie sich durch Lektüre die Zeit vertreiben können.

Der feinfühlige Hörer, der sich nicht durch ein Programm irre machen lassen will und die Komposition ohne Kenntnis des Titels, der Überschrift genießt, deutet nur die Musik an sich aus! Ob der Komponist an einzelnen Stellen spezielle Vorstellungen gehabt hat, kann ihm gleichgültig sein. Lediglich die Töne sprechen zu ihm; sie allein künden in den Symbolen von all den geheimen Empfindungen, all dem Wohl und Wehe, welches den Komponisten beim Erschaffen des Werkes durchzittert hat. Jede Musikform, ihre Linien mögen sich bewegen wie sie wollen, muß musikalisch verständlich sein, sonst ist sie hinfällig. Nur die Logik der Entwicklung zwingt zum richtigen Nachempfinden. Es ist gewiß sehr zweckmäßig, die Charakterisierung von Musikstücken durch Überschriften, durch die Betitelung einzelner Teile vorzunehmen. Eventuell wird so dem Zuhörer das Verständnis erleichtert. Niemals aber darf die Auffassung des Musikstückes nur nach Kenntnisnahme des Titels möglich sein. Übrigens ist wohl die Bedeutung von Überschriften für das große Publikum nicht zu hoch zu bewerten. Wie viele Konzertbesucher haben eine klare Vorstellung, worum es sich eigentlich handelt, wenn sie z.B. lesen: »Les adieux«, »Kreisleriana«, »Preludes«, »Penthesilea« usw.

[84] Ist die Musik denn so armselig, daß sie nicht aus sich heraus Formen entwickeln kann? Warum muß jetzt immer an etwas anderes gedacht werden, von außen Hilfe kommen, um das scheinbar zu schwache musikalische Gerüst zu stützen?

Bei der jetzt so beliebten Verbindung der Künste büßt sicher eine jede an Selbständigkeit ein. Die Schuld an dem Mißlingen eines Kunstgebildes schieben sich die Musen natürlich dann gegenseitig zu. Mit der fortschreitenden, vielleicht sogar ausartenden Technik hat die Tiefe des Musiksinnes abgenommen, und zum Auffrischen werden Hilfskräfte requiriert. Je intensiver eine Angelegenheit betrieben wird, um so rücksichtsloser wird vorgegangen. Kommt es nicht oft genug vor, daß der zärtlichste Liebhaber im Laufe der Ehe gegen seine Frau brutal wird? Ähnlich verfährt gar mancher Komponist mit der Musik, die er doch scheinbar anfangs so lieb gehabt hat und zum Schluß so niederträchtig behandelt.

Häßliches Sensationsbedürfnis, mangelndes musikalisches, melodisches Empfinden, geringe ästhetische Ausbildung tragen an alledem viel Schuld. Der unglückselige Zeitgeschmack schwebt als leitender Geist allen künstlerischen Bestrebungen voran. Ein Segen wenigstens ist es, daß in der Musik nicht wie in der Malerei cliquenweise gearbeitet wird. Es gibt wohl Cliquen genug. Innerhalb derselben aber schafft ein jeder gesondert für sich, liefert die Extravaganzen allein. Man denke sich nur, wie es in der Malerei jetzt Kubisten gibt, die alles in Kuben malen, in der Musik Sekundisten, nur Sekundintervalle oder Sekundakkorde verwendend, Quintisten, ausschließlich an Quintfortschreitungen festhaltend. Sehr weit sind wir übrigens von solchen Extremen nicht entfernt. Je weniger Verständnis für die eigentliche Natur der Kunst vorhanden ist, um so mehr greift der Unfug aller Art um sich. Gar lustig wandelt man auf Irrwegen, die niemals zu einem Ziele führen können.

[85] Der Gesundbrunnen, in welchem Erholung zu suchen ist, wird die Erkenntnis des wahren Wesens, der Bestimmung der Kunst sein. Zu der Erkenntnis gelangt man sicherlich nur durch die Erwerbung und Verwertung von Kenntnissen. Niemandem soll es verargt werden, neue Gebilde hinzustellen oder für Neuerscheinungen einzutreten. Der Neuerer muß aber unbedingt im Besitze eines großen Könnens sein. Das Neue, Extravagante darf ihm nicht als Deckmantel für seine Unfähigkeit dienen. Unangenehm, lästig, ja direkt schädlich wirken die Leute, welche auf formvollendete Werke vergangener Zeiten verächtlich herabsehen, selbst aber unfähig sind, unvorbereitet einen strengen Satz fehlerfrei auszuarbeiten oder ein Rondo korrekt zu improvisieren. Die Bedingung aufzustellen, daß an der Tradition zähe festgehalten werden soll, wäre töricht genug. Aber nur im Bewußtsein und unter Rücksichtnahme auf unsere große Vergangenheit und nicht in Mißachtung derselben wollen wir vorwärts streben. Dann allein wird uns ein gütiges Geschick vor allen Irrwegen gnädig bewahren.


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