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Stephan Krehl, „Musikerelend“, Teil VI

Im Jahre 1912 erschien das Buch »Musikerelend« des Komponisten und Musiktheoretikers Stephan Krehl (1864–1924). Krehl, seit 1902 am Leipziger Konservatorium tätig und von 1907 bis zu seinem Tod Leiter der Institution, stellte dort laut Untertitel »Betrachtungen über trostlose und unwürdige Zustände im Musikerberuf« an. Sie sind polemisch formuliert und geben unmittelbare, heute teils kurios anmutende Einblicke in seine Sicht des Musiklebens, insbesondere mit Blick auf die soziale Stellung der Musiker_innen, in einer Zeit des Umbruchs.

Stephan Krehl (1864–1924):

Musikerelend

Betrachtungen über trostlose und unwürdige Zustände im Musikerberuf

[Teil VI]

Leipzig: C. F. W. Siegel [1912].

[86] 5. Unwissende Musikschüler.

Einen großen Teil der Schuld an den so unerfreulichen Zuständen in der Musik trägt die schlechte allgemeine, musikalische Ausbildung. Dafür werden kurzerhand den Musikschulen schwere Vorwürfe gemacht. Ihre Unzulänglichkeit soll das Elend bedeutsam fördern helfen. Natürlich meint man bei den Angriffen auf die Musikschulen die Lehrkräfte, welche an diesen tätig sind. Konservatoriumslehrer sind in den Augen kritisierender Nörgler nichts anderes als rückschrittliche Pedanten, die für ihre Schüler nur einen Hemmschuh bilden, ihnen zum Ärgernis gereichen. Gar mancher schimpfende Kritikaster entblödet sich freilich nicht, trotzdem im Geheimen um eine Stelle an einer Musikschule nachzusuchen und eine Berufung an eine solche als höchst vorteilhaft anzusehen.

Das ist zunächst außer Zweifel, daß die Unterrichtstätigkeit ohne Aufhören fortschrittlich sein soll. Verlangt doch die einfache Logik, daß die Schüler bei ihrem Unterricht eine Musik betreiben, die mit derjenigen, welche ihnen tagtäglich in Konzerten, im Theater zu Gehör kommt, halbwegs im Einklang steht. Es brauchen ja nicht gleich die Werke von zweifelhaften Stürmern in Betracht gezogen zu werden. An den gewissermaßen klassischen Werken des musikalischen Fortschrittes kann man aber doch nicht taub und stumm vorübergehen. Nach landläufigen Begriffen sind klassisch allerdings nur Werke, welche nach langer Zeit noch frisch am Leben sind. Wir stehen aber nicht an, auch diejenigen Werke als klassisch zu bezeichnen, welche dank ihrer Vollkommenheit augenscheinlich ein langes Leben vor sich haben. Nichts kann dagegen sprechen, den von jeher als klassisch bezeichneten Kompositionen etwa eine »Faustsymphonie« von Liszt, eine F-dur-Symphonie von [87] Brahms oder einen »Till Eulenspiegel« von Strauß ebenbürtig an die Seite zu stellen. Sind das doch Werke, in denen sich rein musikalisch alle Teile wunderbar zum Ganzen fügen.

Sicherlich stehen mehr wie genug Lehrer allen Fortschritten teilnahmlos gegenüber. Dadurch befinden sie sich bedauerlicherweise nicht nur zur Musik, sondern auch zur Jugend, die stets, wenn auch kritiklos, so doch mit Begeisterung an jeder Neuerscheinung festhält, in Opposition. Wohl ist die Rückständigkeit nicht überall gleichstark. Bei Ausbildung in der praktischen Musik beispielsweise liegen die Verhältnisse regulär nicht so ungünstig, wie bei Ausbildung in der Theorie. Schon durch die Verhältnisse werden Klavierspieler, Geigenvirtuosen gezwungen, neuere Literatur zu studieren. Auf theoretischem Gebiete kommt es buchstäblich vor, daß noch nach einem System weiter unterrichtet wird, in welches die Musik, wie sie etwa vor 150 Jahren existierte, nicht einmal hineingepaßt hat. Die letzten Jahrzehnte musikgeschichtlicher Entwicklung sind an den in diesem Sinne aufgestellten Theoremen spurlos vorübergegangen. Erklärungen, deren Sinnlosigkeit längst erwiesen ist, werden ruhig weiter abgegeben. Zustände derart scheinen nur in der Musik möglich zu sein. Ist es denkbar, daß in irgendeiner Wissenschaft wirklich bestehende, nachgewiesene Fortschritte einfach ignoriert werden? Da würde ein rückständiges Lehrbuch sofort der Lächerlichkeit anheimfallen. Noch jetzt werden Harmonielehrbücher veröffentlicht, in denen nachgewiesene Unrichtigkeiten von neuem zum Vortrag gelangen; Formenlehren bringen falsche Erklärungen der Elementarbildungen; Kontrapunktschriften erscheinen, in denen Stimmführungen, welche die Praxis längst als richtig erkannt und verwendet hat, verboten werden. Zu welchem Zweck geschieht das alles? Warum wird die natürliche freie Entwicklung so unnütz aufgehalten?

Nun ist aber doch festzustellen, daß die Rückständigkeit kein [88] spezifisches Zeichen der Musikschullehrer ist. Überall begegnet uns solch lästige konservative Gesinnung. Grund dafür ist eine gewisse Bequemlichkeit, eine Trägheit. Hat ein Musiker eine Lehrweise einmal kennen gelernt, so behält er sie bei, komme, was da kommen will. Er sträubt sich dagegen, in späteren Lebensjahren umzulernen. Nicht selten fehlt auch die geistige Beweglichkeit, bedeutsamen neuen Doktrinen freudig zustimmen zu können. Nur ein geringer Teil der Musikschüler erhält ja eine genügende Ausbildung. Die Zeit, welche dem Studium gewidmet wird, ist meist viel zu kurz. Nicht wenige lernen lediglich die Harmonielehre kennen oder bleiben wenigstens schon in den Anfängen des Kontrapunktes stecken. Da kommt ihnen dann gar nicht recht zum Bewußtsein, wieviel, namentlich nach Absolvierung einer veralteten Methode, zum Verständnis, zur Erklärung der neuen Musik noch fehlt. Will wirklich einmal ein Musiker, der in der Jugend versäumt hat die Elemente der Musik richtig zu erlernen oder dem eine praktische Erziehung vorenthalten worden ist, in späteren Lebensjahren gern das Versäumte nachholen, dann mangelt es fast immer an Zeit, an Ruhe, an Geduld, um die Lücken auszufüllen. Auch die Mittel zu erneutem Studium sind nicht ohne weiteres vorhanden. Unzufriedenheit, das Gefühl der Unzugänglichkeit beherrscht nun solch armen Menschen und verkümmert ihm die Freude an der Arbeit, den Genuß an der Kunst. Ein hervorragend begabter und einsichtiger Lehrer wird höchst wahrscheinlich in kurzer Zeit seine Schüler besser als ein mißmutiger Musikant fördern können. Was liegt einem Menschen, der am Unterrichten kein Interesse hat und nur aus Verzweiflung Stunden gibt, an seinen Schülern? Weder der eine noch der andere vermag aber schließlich etwas auszurichten, wenn die Ausbildungszeit überhaupt zu kurz bemessen ist. In wenigen Monaten kann man die enorm schwierige Kunst weder lehren noch lernen. Schon bei Seminarmusiklehrerprüfungen werden recht beträchtliche Anforderungen [89] gestellt. Ein Pianist beispielsweise hat nicht nur durch Vortrag von Klavierstücken aller Art seine technische Fertigkeit darzutun, er muß auch in der Geschichte des Klavieres, in den Stilarten der Spielweisen, in der formellen Gestaltung der Klavierkompositionen genau Bescheid wissen. Die Anatomie der Hände, die Grundlage der Akustik, die Eigenart der Orchesterinstrumente, die eventuell mit dem Klavier zum Vortrag verbunden werden, darf nicht unbekannt sein. Die Kenntnis der Elementarlehre, Harmonielehre, Formenlehre, des Kontrapunktes, der Instrumentationslehre, der Musikgeschichte, wird dabei als selbstverständlich vorausgesetzt.

Ein Genie braucht sich vielleicht um all das nicht zu kümmern. Große einzigartige Geister eignen sich die notwendigen Kenntnisse mit der Zeit von selbst an. Eine Musikschule ist ja aber keine Ausbildungstätte für Genies. Wenn sie das sein sollte, müßte wahrscheinlich nur zu häufig ihre Schließung veranlaßt werden, weil sich das erwartete Genie nicht einstellen will. Im wesentlichen wird hier der gute Mittelstand, wenn man so sagen soll, seine Ausbildung suchen. Das ist doch genau dieselbe Sache auf den anden Schulen auch. Ist etwa das Gymnasium eine Bildungstätte ausschließlich für Genies? Tausende beenden jährlich die Gymnasialstudien, ohne sich in ganz frappanter Weise bei der Prüfung hervorzutun. Hier wiegen gleichfalls die tüchtigen Durchschnittsleistungen vor. Und wie viel Zeit, wie viel Arbeit, wie viel Schwierigkeit kostet es, bis die Gymnasiasten das Ziel erreicht haben, zum Abiturientenexamen zugelassen zu werden. Neun Jahre lang müssen sie danach streben. Bei gar manchen werden durch die Anhänglichkeit an Schule und Lehrer aus den neun Jahren zehn oder elf Jahre. Mit eiserner Strenge wird auf die Absolvierung der einzelnen Partien gehalten. Durch diesen Zwang allein wird ein halbwegs befriedigendes Resultat gezeitigt.

[90] Wie traurig liegen demgegenüber die Verhältnisse bei der musikalischen Ausbildung, gleichgültig ob dieselbe an Musikschulen oder von Privatlehrern geleitet wird. Nirgends existiert ein Zwang, niemals ist von einer Verpflichtung, eine bestimmte Zeit beim Unterricht auszuhalten, die Rede. Daraus resultieren böse Erscheinungen. Einige wenige Beispiele mögen zur Beleuchtung der Mißstände dienen.

Bei einem Musiklehrer meldet sich ein Geiger, der hofft, wenn seine Mittel reichen, zwei Jahre studieren zu können. Im Violinspiel besitzt er eine gewisse Fertigkeit; daran ist nicht so viel auszusetzen. Es liegt dem jungen Manne nun am Herzen, sich einige Kenntnisse in der Theorie, einige Fertigkeit im Klavierspiel zu erwerben. Auf dem Klavier vermag er wohl Klänge zu greifen, einfachste Kompositionen jedoch im mäßigsten Tempo zu spielen, glückt ihm nicht. Nicht wenig Geduld und Arbeit wird nötig sein, bis er primitive Begleitungen korrekt zu spielen imstande sein wird. In der Theorie der Musik ist er vollständiger Ignorant. Mit dem Studium der Harmonielehre möchte er beginnen, muß sich aber vorerst noch die Elementarlehre zu eigen machen. Weiß er doch keine exakte Auskunft zu geben, was Takt, was Rhythmus ist; auf die Frage nach der Begründung der Konsonanz und Dissonanz der Intervalle bleibt er jede Antwort schuldig. Warum ein g-Mollsatz bei Bach nur ein b vorgezeichnet hat, ist ihm durchaus unverständlich. Nach Absolvierung der Elementarlehre will es mit dem Studium der Harmonie nicht so recht vorwärtsgehen. Der Geiger, welcher nur seine Violinstimmen zu sehen gewohnt ist, hat Schwierigkeiten mit der Vorstellung des polyphonen Satzes. Auch hört er nicht exakt, was er schreibt, und hat Mühe, die Klänge auf dem Klavier fließend hintereinander zu spielen. Nun kommt dazu, daß der Bedauernswerte, da er nicht bemittelt ist, seine Abende zum Geldverdienen verwenden muß. Dadurch ist er [91] nicht selten müde und abgespannt und besitzt nicht die geistige Elastizität, um theoretische Erklärungen schnell zu fassen. Nach dreiviertel Jahren qualvoller Arbeit ist er plötzlich aus den Stunden verschwunden. Seine pekuniären Mittel waren gänzlich erschöpft. Er sah sich gezwungen, eine Stellung in einem kleinen Orchester anzunehmen.

Eine Klavierspielerin, die schon Jahre lang Instrumentalstudien betrieben hat und in der Technik des Klavierspieles einigermaßen Bescheid weiß – sie spielt Werke von Bach, Beethoven, Schumann, Chopin, Liszt nicht ohne Geschmack –, entschließt sich, da sie durch Unglück in der Familie plötzlich auf Gelderwerb angewiesen ist, Klavierlehrerin zu werden. Sie fühlt selbst, wie notwendig harmonische Kenntnisse, kontrapunktische Schulung sind, damit sie die Kompositionen, welche beim Unterricht zu erklären sind, sich selber erst einmal klar machen kann. Studien in der Harmonielehre werden zu diesen Zweck begonnen, Vorträge über Formenlehre, Methodik, Akustik usw. besucht. Gewissenhaft und eifrig betreibt das strebsame Mädchen ihre Studien. Nun stürmt aber soviel auf die Lernbegierige ein, daß sie all den Stoff nicht genügend auf einmal verarbeiten kann. In nervöser Hast werden die Sachen verschlungen, ohne daß es zur Freude an dem Genossenen kommt. Auch in diesem Fall hören wir von einem plötzlichen Abbruch der Ausbildung, weil die Schülerin zur Lehrerin avanciert. Sie nimmt, um einen Unterhalt zu haben, eine Stellung als Klavierlehrerin in einem Pensionat an, ohne auch nur im geringsten die notwendigen Studien beendet zu haben.

Und schließlich die Geschichte eines jungen Mannes, der erst nach vielen Schwierigkeiten die Zustimmung seiner Eltern erwirkte, sich der Kunst widmen zu dürfen, obwohl er in jungen Jahren schon bedeutsame Kompositionsbegabung und klavieristisches Geschick zeigte. Vor dem Übertritt zur Kunst war er im wesentlichen Autodidakt. Der Musik konnte er [92] während des Schulbesuches und der Lehrlingszeit in einem Bankhaus nur wenige kostbare Mußestunden widmen. Bei Beginn des ernsten künstlerischen Studiums muß der Jüngling auf allen Gebieten zunächst das Elementare kennen lernen. Soll doch auf einem soliden Grund etwas wirklich Gutes weiter aufgebaut werden. Der junge Kunsteleve zeigt sich auch anfangs allenthalben recht strebsam. In die Stunde trägt er regelmäßig seine simplen Harmoniearbeiten, seine Gedanken jedoch sind stets bei der Arbeit, die ihn zu Hause ganz in Anspruch nimmt: einer tragischen Oper, von welcher er natürlich Erstaunliches erwartet. Nicht lange währen die Freuden der musikalischen Ausbildung. Kühn, in frechem Selbstvertrauen nimmt der »Unerzogene« die Stelle als Kapellmeister an einem kleinen Theater an und kehrt ohne Zaudern seinem Lehrmeister den Rücken.

An Beispielen in großer Zahl könnte so gezeigt werden, wie nach kurzer Zeit dem künstlerischen Studium ein Ende bereitet wird. In solchen Fällen darf aber doch nicht den Lehrern die Schuld beigemessen werden. Selbst wenn dieselben erster Qualität sind, wird an ein Verweilen der Schüler nicht zu denken sein. Zunächst sind scheinbar die Flüchtlinge vielleicht auch gar nicht einmal schlecht an ihrem Platze. Der Geiger füllt mit jugendlichem Eifer seine Stelle recht ordentlich aus, die Klavierlehrerin unterrichtet mit regem Interesse und der neue Kapellmeister dirigiert, voll künstlerischer Pläne, nur so darauf los, als ob er schon lange Generalmusikdirektor wäre. Aber natürlich mit der Zeit wird sich der Mangel an ernster Ausbildung bedenklich bemerkbar machen.

Was läßt sich da sagen? Der Schüler hat für sein Vorgehen die Verantwortung selbst zu tragen. Die Verhältnisse liegen nun einmal so, daß der Musikstudierende die Dauer seiner Studienzeit jetzt allein bestimmt. Er gibt seine Studien auf, wenn er genug davon hat, oder wenn er aus äußerlichen [93] Gründen zur Beendigung gezwungen wird. Musiklehrer kann er ja doch jeden Moment werden, er braucht nur zu wollen. Niemandes Erlaubnis ist dazu einzuholen. Ein Befähigungsnachweis wird nicht abverlangt. Läßt sich etwas Bequemeres und Einfacheres denken? Später wird sich freilich – das ist sicher vorauszusagen – bei all diesen Flüchtlingen die Kürze der Studienzeit bitter rächen. Sie selbst werden am schmerzlichsten den Mangel einer gründlichen musikalischen Erziehung empfinden.

Einstweilen bleibt es eben dabei, daß kein Musiklehrer, keine Musikschule einen Schüler zu halten vermag, sowie derselbe selbstherrlich erklärt: »Meine Studien sind beendet«. Auf die Ausstellung eines Zeugnisses verzichtet er, wenn er voreilig davonspringt, freimütig, weil er sich nicht mit Unrecht sagt, daß Zeugnisse jetzt nicht viel nützen. Solange der Staat nicht das Vorlegen von Zeugnissen verlangt, sind alle Bescheinigungen nur Privatgarantiescheine. Solche werden aber leider von vielen Leuten in so rührender, weitherziger Art ausgestellt, daß niemand dieser Garantie recht traut.

Wie kommt es überhaupt, daß Musikschulen Zöglinge nur für kurze Zeit annehmen? Sollte es nicht einfach zur Bedingung gemacht werden, daß Neueintretende sich für eine bestimmte Zahl von Jahren verpflichten? Erziehungsanstalten mit einem festen und gesicherten Etat können wohl so handeln. Die meisten Musikschulen, mögen sie sich auch einer Protektion von oben aus erfreuen oder einen glänzenden Namen führen dürfen, sind Privatanstalten ohne größeres persönliches Vermögen. Bleiben die zahlenden Schüler aus, so fehlen die Mittel zur Unterhaltung des Betriebes. Mithin sind die Vorstände der Musikanstalten direkt darauf angewiesen, Schüler, wie sie kommen, aufzunehmen. Daß Privatlehrer in den seltensten Fällen detaillierte Bedingungen für die Aufnahme von Schülern stellen können, ist selbstverständlich. Müssen [94] sie doch nur zu oft froh sein, wenn sich überhaupt Schüler bei ihnen melden.

Ein beliebtes Mittel der Lehrer, die Schüler zu fesseln, ist das Aufstellen einer ganz bestimmten Lehrmethode. Bemerkenswertes sollen bisweilen Gesanglehrer darin leisten, die skrupellos behaupten, andere singende Kollegen hätten beim Unterricht eine falsche Methode. Daher das geflügelte Wort: »Jeder Gesanglehrer sagt vom anderen, er habe eine falsche Methode. Die meisten Gesanglehrer möchten wohl in diesem Punkte vollkommen recht haben.« In Wahrheit sollte es nicht so viele Methoden wie Lehrer, sondern so viele Methoden wie Schüler geben. Studierende von durchaus verschiedenartiger Anlage, andersartiger Begabung erheischen eine andersartige Manier der Behandlung. Die Kunst beim Unterricht besteht ja darin, daß der Lehrer den Schüler zu packen weiß, nicht aber wartet, bis der Schüler sich ihm nähert. Naturgemäß legt sich jeder Lehrer ein System, nach welchem er am praktischsten anleiten kann, zurecht. Niemals aber wird er doch in starrem Egoismus an der, als am besten zum Ziele führenden Manier festhalten, sondern die Ausbildung bald so, bald so, wie es eben die Eigenart des Schülers als wünschenswert erscheinen läßt, betreiben. Wahrscheinlich sogar wird sich seine sogenannte Methode, je nachdem er sich selbst weiter entwickelt, immer umgestalten. Ein gewissenhafter Lehrer hat ohne Anhalten alle Neuerscheinungen auf dem Gebiete des Unterrichts zu studieren. Gar mancherlei wird sich da als verwendenswert erweisen. Wie der Mensch im Laufe des Lebens bei innerer Klärung und Vervollkommnung seine Ansichten korrigiert, so wird auch der Künstler mit der Zeit an Einsicht zunehmen und an seiner Lehrweise schadhafte Teile durch neue ersetzen, veraltete in kluger Einsicht umwandeln. Die Schüler sind ja keineswegs über die Art der Methode, nach welcher sie gerade lernen und von welcher sie ununterbrochen sprechen, voll[95]kommen unterrichtet. Größeren Eindruck als das Lehrsystem des Erziehers macht doch die Persönlichkeit desselben. Es ist gar nichts Ungewöhnliches, daß hervorragende Musiker, die nur nebenbei etwas Unterricht geben und keine spezielle Methode zugrunde legen, durch die Macht ihrer Persönlichkeit auf die Schüler bedeutsam einwirken. Das Schlimmste ist es wohl wenn bei der ohnehin kurzen Zeit der Ausbildung die Schüler nach verschiedenen Methoden nacheinander lernen sollen. Lehrer, welche auf ihre Methode pochen, verlangen auch, daß die Schüler in ihr von Grund aus zu lernen anfangen. Neueintretende müssen mithin, selbst wenn sie in einer anderen Methode schon ausgebildet waren, in der neu erwählten noch einmal von vorn anfangen. Was hat das für Sinn, vorgeschrittene Schüler auf eine Elementarstufe zurückzudrängen? Tut man das nur, um zu zeigen, wie herrlich weit die neue Methode führen kann? Solch eine fixe Idee des Lehrers ist durchaus verwerflich. Nur wer nachweislich im Elementaren nicht Bescheid weiß, muß zum Nachlernen verpflichtet werden. Zu Extravaganzen ist bei der so kurz bemessenen künstlerischen Ausbildungszeit keine Gelegenheit.

Mag man die Sache ansehen, wie man will, mögen an Musikschulen oder beim Privatunterricht Lehrversehen vorkommen, mögen rückständige Lehrkräfte einer vernünftigen Lehrgestaltung hinderlich sein, mögen übertriebene Methoden einen Hemmschuh bilden, der bedeutsamste Grund für ein so häufiges Mißlingen der musikalischen Ausbildung ist unbedingt die ungenügende Dauer der Studienzeit. Für die praktischen Fächer läßt sich ja wohl eine genaue Dauer der Ausbildung überhaupt nicht bestimmen. Da wird so lange zu lehren und zu lernen sein, bis das wünschenswerte Ziel erreicht ist. Gründliche Naturen, welche einen exquisiten Elementarunterricht genossen haben, werden bei hervorragender musikalischer Veranlagung am sichersten und schnellsten vorwärts kommen. Für alle [96] Fächer, in welchen regulär an den Schulen klassenweise unterrichtet wird, ist ein Zeitraum zur Bewältigung zu fixieren. Musikschulen ohne Elementarklassen lassen den Schüler zunächst die Harmonielehre erlernen, dann Kontrapunkt und Fuge studieren. Für jeden Kursus wird zur Absolvierung ein Jahr verlangt. Nicht selten erweist es sich freilich selbst bei technisch schon vorgerückten Schülern als notwendig, die Elementarlehre zu wiederholen und zu befestigen. Dadurch beansprucht die theoretische Ausbildung noch mehr als drei Jahre. In dieser knappen Zeit vermag man nur das Notdürftigste der genannten theoretischen Disziplinen zu erläutern. Modulation, Kontrapunkt vertrügen fast stets eine ausführlichere Bearbeitung. Neben den drei oben erwähnten Hauptgebieten soll noch Musikgeschichte, Formenlehre, Ästhetik, Akustik, Musikdiktat unbedingt gründlich Berücksichtigung finden.

Von Melodiebildungslehre, Studium des freien Satzes und Übung in der freien Komposition ist bei alledem noch gar nicht die Rede gewesen. Wie viele Mühe allein bereitet die Erlernung des freien Satzes. Durch Übung im strengen Satz kommt man keineswegs auch zum Verständnis der Eigenheiten des freien Satzes. Da ist noch ein Spezialstudium dringend wünschenswert. Daß die Bildung der Melodie im Einzelnen lange geübt werden muß, wird leider meist viel zu wenig beachtet. Fast alle Musiker sind darauf angewiesen, Unterricht zu erteilen. Kenntnisse in der Pädagogik sind daher für sie durchaus erforderlich. Diese komplizierten Gebiete in kurzer Zeit beherrschen zu lernen, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit. Und selbst angenommen, es wird drei Jahre lang studiert, so ist doch für diese Zeit der Stoff zur Bewältigung viel zu groß. Zahlreiche Schüler wenden ja aber die hier als Mindestmaß erklärte Zeit gar nicht auf. Einzelne Spezialgebiete ignorieren die Studierenden meistens auch vollständig; besteht doch kein direkter Zwang zu deren Kultivierung. Wie soll es auf [97] diese Weise möglich sein, zu einem wirklichen Können in der Kunst zu gelangen ? Daß nur zu viele Musiker aus Interesselosigkeit, aus Stumpfheit selbstzufrieden auf dem Niveau, welches sie bei der Ausbildung erreicht haben, stehen bleiben, wurde schon erwähnt. Zögen sich die Leute dann in die Einsamkeit zurück und verweilten still im Verborgenen, so wäre ihr geringes Wissen und Können bedauerlich. Schaden könnte daraus nicht erwachsen. Ungebildete Musiker geben aber ebenso wie gebildete Unterricht und haben außerdem nicht selten noch die Ambition, Sachen zu publizieren. Kompositionsversuche, Bearbeitungen aller Art legen dann schmerzendes Zeugnis für die Unfähigkeit dieser Musikanten ab.

Ach, wüßten die Musikstudierenden immer, wie unwissend sie sind! Hielten sie doch für das Erforderliche, sich wirklich zum Musiker zu erziehen und nicht nur zum Musikanten auszubilden. Eine glänzende Spezialbegabung täuscht ja nur zu häufig über die allgemeine musikalische Bildung hinweg. Virtuosen können uns durch eine außerordentliche Fingerfertigkeit auf ihrem Instrument verblüffen. Sollen diese Scheingroßen über Phrasierungsprobleme, metrisch komplizierte Umbildungen, kompositionstechnische Fragen Auskunft geben, so versagen sie nicht selten vollkommen. Routinierte Podiumshelden sind eventuell unfähig, einen reinen Quartettsatz zu liefern. Kenntnisse in der Akustik oder Musikgeschichte sind selbst bei namhaften Sängern bisweilen verzweifelt dürftig. Oft genug kommt es vor, daß ein Klavierlehrer niemals Kullaks »Ästhetik des Klavierspiels« in der Hand gehabt hat, daß ein Theorielehrer nichts von Riemanns »Geschichte der Musiktheorie« weiß. Das Hauptstreben in der musikalischen Ausbildung muß dahin gehen, vielseitige Kenntnisse zu erwerben. In kurzer Zeit ist es unmöglich, sich in den zahlreichen Einzelabteilungen heimisch zu fühlen. Von langer Dauer hat daher die Studienzeit zu sein. Eine Prüfung [98] allein vermag den Zwang zur Vornahme der Studien abzugeben.

Wenn der Staat den Musikern nicht zur Hilfe kommt, so verbleibt den Musikern nichts anderes, als sich selbst zu helfen. Möchten sie sich doch zusammentun und einen künstlerischen Staat gründen, in dem die Bürger freie Bürger sind, deren Arbeit nicht durch lästige Spekulationsgeschäfte geschädigt werden darf. Das freie Bürgerrecht erhält nur der, welcher den Nachweis wahrer Künstlerschaft erbracht hat, die sich auf umfangreiches, allgemeines musikalisches Wissen und Können gründet.

Mag es auch schwere Kämpfe kosten, den Unterricht zeitgemäß zu gestalten, wir dürfen doch den Mut nicht verlieren und die Hoffnung auf den Sieg der guten Sache nicht aufgeben. Immer von neuem sind Versuche zu unternehmen, die Zeit der Ausbildung zu einer wirklichen Vorbereitung für das anständige Musikertum zu gestalten.

Wenn die Musikschüler über alle Ansprüche, welche an sie zu stellen sind, anfangs auch etwas ächzen werden, später danken sie doch von Grund ihres Herzens für das Wissen auf künstlerischem Gebiete, welches ihren Blick geweitet hat und den Musikerberuf erst genußreich macht.


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