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TV-Musik: Dokumentarfilme

Krischan Wernecke

Musik in und für Dokumentarfilme(n)

»But they’re in a lifeboat out in the middle of the ocean; where’s the orchestra?

Behind the camera!«[1]

Dieses Zitat aus einem Gespräch Alfred Hitchcocks mit dem Komponisten David Raksin während der Produktion von Lifeboat (1944) beschreibt – obwohl Lifeboat kein Dokumentarfilm ist treffend die Problematik von Musik in Dokumentarfilmen, die in diesem Text veranschaulicht wird. Den Dokumentarfilm als Genre zu definieren, stellt sich im Laufe des 20. Jahrhunderts als zunehmend kompliziert heraus. Stets stand er im Spannungsfeld von Fiktionalität und Nonfiktionalität; schon in den 1920er Jahren bezeichnete man ihn zudem als Kunstfilm. Dass diese Ansicht bis heute fortwirkt, zeigt der Versuch einer Definition des Dokumentarfilmers Clemens Kuby aus dem Jahre 2002:

»[Ein Maler] ist ein Künstler. Genau das sind wir Dokumentarfilmer auch […] und ich gelobe, mich von der Wirklichkeit nicht mehr einschränken zu lassen.«[2]

Indem Kuby die Auflösung der strikten Einteilung in Fiktion und Realismus beschreibt, spricht er stellvertretend für eine aktuelle Strömung im Dokumentarfilm: Während Spielfilme vermehrt die Ästhetik des Dokumentarischen zu schätzen lernen, reizt Dokumentarfilmer_innen die »formale Perfektion des Spielfilms«.[3] Dabei lässt sich der Grad der Fiktionalisierung als Grad der Inszenierung betrachten: beginnend bei Symbolbildern über einzelne nachgespielte Szenen bis hin zu Spielfilmen, die dokumentarisch dramatisiert sind.[4] Diese Grenzauflösung beschreibt auch Thomas Schadt: Der Dokumentarfilm setze

»in seiner Interpretation von Wirklichkeit in erster Linie ohne Zuhilfenahme fiktionaler Inszenierung auf reale Authentizität […] und [gestaltet] diese mit filmischen Mitteln und einer filmischen Dramaturgie.«[5]

Es geht Dokumentarfilmer_innen demnach primär um Glaubwürdigkeit und Authentizität, zu deren Inszenierung jedoch auf filmische Mittel zurückgegriffen wird, die durchaus die Realität verzerren können. Doch wie lässt sich extradiegetische Musik, die nicht Teil der gefilmten Handlung ist, mit einem Anspruch auf Realitätstreue vereinbaren – wie lässt sich folglich für Dokumentarfilme komponieren?

Einen Originalton als authentisch zu bezeichnen, fällt leicht, wenn er dem Bild zugeordnet werden kann. Eine Szene in einem gut besuchten Restaurant, in der eine Liveband zu sehen ist, lässt etwa Jazzmusik, Gemurmel und klirrendes Besteck authentisch erscheinen. Doch wie authentisch ist Ton, der nicht zuzuordnen ist, etwa Orchestermusik im Nirgendwo des Meeres? Dazu betrachtet Norbert Jürgen Schneider übergeordnet den Gesamtzusammenhang des filmischen Charakters und fordert die »dramaturgische Stimmigkeit«[6] als Kriterium der Authentizität. Folgerichtig trägt extradiegetische Musik zur Authentizitätskonstruktion bei, solange sie einen positiven Beitrag zur dramaturgischen Stimmigkeit leistet.

Auftragskompositionen

Die Praxis der Auftragskomposition stellt nach wie vor den größten Anteil in der Filmmusikbranche dar. Neben direkter Kontaktaufnahme vonseiten der Filmproduzent_innen gibt es Internetportale, die per Newsletter Ausschreibungen versenden, auf die sich Komponist_innen bewerben können. Dann werden sie in der Regel spätestens zur Postproduktion des Films mit Verträgen für den Zeitraum des künstlerischen Schaffens engagiert. Die Nähe zur Produktion bietet ihnen die Möglichkeit, motivisch zu arbeiten und eine musikalische Struktur über den gesamten Film zu legen.

Im Folgenden wird exemplarisch an der Dokumentarserie Die Machtergreifung von Peter Hartz und Klaus-Peter Wolf (einer ZDF-Produktion von 2009) gezeigt, wie der organisatorische Prozess der Musikproduktion für Dokumentarfilme aussehen kann. Die Machtergreifung ist eine dreiteilige Serie, die den Aufstieg Adolf Hitlers im Jahr 1933 thematisiert. Den roten Faden bildet die Perspektive der Protagonistin Stéphane Roussel, der ersten französischen Auslandskorrespondentin, die zu dieser Zeit in Berlin tätig war.

Den Komponisten Harry Gutowski und Axel Wernecke wurde ein Drehbuch sowie die Rohfassung der ersten Folge als Grundlage zur Konzeption der Musik gegeben. Sie entschlossen sich, motivisch zu arbeiten, und erstellten auf Basis der Beschreibungen aus dem Drehbuch (»›Roussel-Motiv‹ = positiv, schön, evtl. durch Instrumentierung (Bandoneon, o. ä.) und Klangart leicht französische Anmutung«) folgendes Motiv:

dok1.jpg

Dieses »Roussel-Motiv« zieht sich wiederkehrend und variiert durch den Film. Der erste Teil der Serie endet mit dem Reichstagsbrand und der Aussicht auf Deutschlands düstere Zukunft. Dementsprechend verschieben die Komponisten das Motiv (die mit ihm bezeichnete Figur war in der letzten Szene vor dem Abspann zu sehen) in seine parallele Molltonart; die Ganzton- (Am-Gm-Fm) und die abschließende Mediantenrückung (Fm-Am) vermitteln die ungewisse, düstere Zukunftsperspektive:

dok2.jpg

Die Vergabe eines Kompositionsauftrags ermöglichte hier also eine intensive Auseinandersetzung mit den Filminhalten sowie eine szenenübergreifende Struktur. Dadurch konnte eine musikalische Kohärenz geschaffen werden, die die Intention des Films unterstreicht.

Library Music

Im Gegensatz zur Auftragskomposition existiert Library Music meist schon, bevor der Filmprozess beginnt. Seit den 1980er Jahren erfährt sie ein stetes Wachstum und verdrängt mehr und mehr das Auftragskomponieren. Die Bezeichnung »Library Music« oder auch »Production Music« beruht auf ihrer Vermarktungsweise: In einer durchsuchbaren Bibliothek sind vorproduzierte Musiktitel eingestellt, die für Filmproduktionen lizenziert werden können. Dabei werden die Titel mit Schlagwörtern wie »heiter«, »stimmungsvoll«, »energetisch«, »heroisch«, aber auch »Sport«, »Nachrichten«, »Militär« etc. klassifiziert. Zu jedem Titel werden darüber hinaus das Tempo und die Tonart angezeigt.

Die Lizenzierung kann für verschiedene Bedürfnisse angepasst werden. Unterschieden wird zwischen den Rechten am Titel an sich (also Songtext oder/und Komposition) und den Rechten an der speziellen Aufnahme. Um eine eigene Interpretation eines Titels zu benutzen, benötigt man also die Rechte am Titel; für die Nutzung der Bibliotheksaufnahme darüber hinaus die Rechte an dieser. Ist es vertraglich nicht anders geregelt, so liegen in der Regel die Rechte für den Titel beim Verlag, die für die Aufnahme beim Label. Um das komplexe Verwertungssystem zu vereinfachen, bieten viele Verlage ihre Titel in dieser Weise als Library Music an. Donald Passman überschlägt die Lizenzierungsgebühren von Musik für den Film in den USA bei einem einigermaßen bekannten Titel mit bis zu $ 25,000.[7]

Als Beispiel wähle ich Heart of Courage von der Musikgruppe Two Steps From Hell und stelle die Library Extreme Music von Sony/ATV Music Publishing exemplarisch vor. Ihr Aufbau entspricht der oben beschriebenen Charakteristik. Die Schlagwörter sind vielfältig; für Heart of Courage werden u. a. die Tags »heroic«, »majestic«, »suspense« und »epic« gelistet, um die Stimmung des Titels widerzuspiegeln.

Tatsächlich kommt Heart of Courage in einigen Dokumentarfilmen vor. In Douglas J. Cohens BBC-Produktion The Entire History of the World in 2 Hours (2011) stellt es die Titelmusik dar, was laut Passman sogar bis zu $ 75,000 Lizenzgebühren nötig macht. In The World Wars (John Maler in Produktion von Stephen David Entertainment für den History Channel) wird die Musik bei Churchills Rede über die erfolgreiche Evakuierung bei Dunkerque eingesetzt, und in The Universe – Crash Landing on Mars von James Golden (Flight 33 Productions) reiht sie sich ein in 38 Minuten pausenlos »epischer« Musik.

Aus Sicht der Filmproduzent_innen mag diese Form der Musikakquise sinnvoll sein und ihnen die Freiheit geben, »perfekte« Musik für den Anlass zu erhalten. Die Zeit, die die Komponist_innen während der Postproduktion benötigen, entfällt, und zudem müssen keine individuellen Verträge über Honorar und Rechte geschlossen werden. Allerdings zeigt gerade das Beispiel der Dokumentarserie The Universe, dass Library Music dem Film unter Umständen keinen eigenen Charakter verleihen kann und beliebig ersetzbar ist. Motivische Arbeit entfällt, als einziger roter Faden bleibt der Stil der gewählten Musik. Darüber hinaus ist diese Musikproduktionsform für die Komponist_innen stärker risikobelastet als Auftragskompositionen: Es kann geschehen, dass sie Tausende von Titeln in der Datenbank haben, die aber nicht gefragt werden – was nicht unbedingt an der Qualität der Musik liegt, sondern auch an einer unpassenden Verschlagwortung. Der Trend einer Wandlung des Kompositionsmarkts zur Vorherrschaft der Library Music ist demnach mindestens kritisch zu betrachten.

 

Nachweise

[1] Holly Rogers, Music, Sound and the Nonfiction Aesthetic, S. 7.

[2] Thomas Schadt, Das Gefühl des Augenblicks, S. 17.

[3] Ebd., S. 20.

[4] Fritz Wolf, Fiktionalisieren des Dokumentarischen, S. 128.

[5] Thomas Schadt, Das Gefühl des Augenblicks, S. 22.

[6] Manfred Hattendorf, Dokumentarfilm und Authentizität, S. 158.

[7] Zitiert nach Marshall Brain, How Music Licensing Works. Das gilt offenbar für eine zeitlich unbeschränkte Nutzung des Titels für jede vertraglich geregelte Ausstrahlung des Filmes.

 

Quellen und Literatur

Brain, Marshall: How Music Licensing Works, in: howstuffworks, <https://entertainment.howstuffworks.com/music-licensing4.htm> (Abruf am 13. Februar 2018).

Hattendorf, Manfred: Dokumentarfilm und Authentizität, Konstanz: Ölschläger 1994.

Rogers, Holly: Music, Sound and the Nonfiction Aesthetic, in: Music and Sound in Documentary Film, hrsg. von ders., New York: Routledge 2015 (Routledge Music and Screen Media), S. 1–19.

Schadt, Thomas: Das Gefühl des Augenblicks. Zur Dramaturgie des Dokumentarfilms, Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe 2002.

Thompson, Kristin; Bordwell, David: Film History: An Introduction, New York: McGraw-Hill 2003.

Wolf, Fritz: Fiktionalisieren des Dokumentarischen, in: Dokumentarfilm im Umbruch, hrsg. von Peter Zimmermann und Kay Hoffmann, Konstanz: UVK 2006, S. 125–138.


1 Kommentar

  1. […] arise when considering music (and sound) in the context of television. Ranging from the problems of library music in documentary film and the limitation of news music to the program’s opening, to the ability of leitmotifs to […]

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Moritz Kelber

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